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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

13. 6. 2015 - 13:00

Golem im Nebel

Der Schauerromanklassiker "Der Golem" von Gustav Meyrink ist wortgewaltig, elegant und grausam. Zeit für eine Neuentdeckung.

Buchcover

Hoffmann und Campe

Der Golem von Gustav Meyrink ist beim Hoffmann und Campe-Verlag in einer prachtvollen Ausgabe erschienen.

Hundert Jahre ist es her, dass einer der einflussreichsten Romane der deutschsprachigen Phantastik zum ersten Mal in Buchform veröffentlicht wurde. Zuvor wurde Gustav Meyrinks Der Golem allerdings schon einhunderttausendfach als so genannte Feldausgabe unter deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg verteilt. Die Männer zeigten sich begeistert von der Geschichte eines Prager Gemmenschneiders, dem die jüdische Sagengestalt Golem erscheint. Im Hoffmann und Campe-Verlag ist jetzt eine hochwertige Neuauflage des berauschenden Klassikers erschienen.

Ich wollte mir seine Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, doch es misslang. Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? – Und welche Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. – Alle Bilder, die ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste zusammensetzen vermocht.

Athanasius Pernath lebt im jüdischen Ghetto von Prag. Er ist Gemmenschneider (jemand, der Edelsteine zuschneidet) und Ausbesserer von Antiquitäten: daher wundert er sich auch nicht, als ihm ein geheimnisvoller Mann ein Buch vorbeibringt. Doch als er darin liest, verliert er sich in einer somnambulen Welt. Traum und Wirklichkeit rinnen unaufhaltsam ineinander: Es heißt, ein Golem taucht alle 33 Jahre in Prag auf. Es heißt, der Trödler von nebenan sei ein hinterlistiger Mörder. Es heißt, im Nachbarhaus gäbe es ein Zimmer ohne Eingang. Nebel wabert durch die Stadt. Und Athanasius verliert sich darin.

Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war, tappte mich durch den dichten Nebel an Häuserreihen entlang und über schlummernde Plätze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame Schilderhäuser und die Schnörkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge und zerging hinter mir in der Luft.

Golem über eine schlafende, oder tote Frau gebeugt.

bifrost.it

Im expressionistischen Stummfilmklassiker "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920) von Paul Wegener und Carl Boese mimt Paul Heinreid die jüdische Sagengestalt. Keiner der insgesamt drei Golem-Filme von Paul Wegener ist allerdings eine Verfilmung von Gustav Meyrinks Roman.

Der Hauptdarsteller in Gustav Meyrinks meisterlicher Erzählung ist zweifelsohne Prag selbst. Die Stadt, ihre Straßen und Häuser beschreibt er wie einen bedrohlichen, feindseligen Organismus. Die Menschen, die darin leben sind kaum besser. Der Golem selbst spielt in Meyrinks erstem Roman nur eine untergeordnete Rolle: Insgesamt fünfmal erscheint er vor Athanasius Pernath, jedes Mal legt er ein weiteres Stück seines Unterbewussten frei.

Ein graues, breitschultriges Geschöpf, in der Größe eines gedrungen gewachsenen Menschen, auf einen spiralförmig gedrehten Knotenstock aus weißem Holz gestützt.
Wo der Kopf hätte sitzen müssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus fahlem Dunst unterscheiden. Ein trüber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der Erscheinung aus.
Ein Gefühl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung. Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drängte sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form geronnen.

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Der Golem ist vieles auf einmal. Ein Prager Stadtroman, ein grimmiger Krimi, ein Horrorstück. Gustav Meyrink, selbst begeisterter Mystiker und Okkultist, lässt das Metaphysische in die Wirklichkeit rinnen und formt daraus eine essenzielle Erzählung des 20. Jahrhunderts, die es Wert ist, wieder gelesen zu werden.