Erstellt am: 13. 6. 2015 - 10:00 Uhr
Krieg mit Familienanschluss
double fine
Unsere Bogenschützin hat ein schweres Erbe zu tragen. Von ihrer Mama hat sie die Kurzsichtigkeit geerbt, von ihrem Opa das Asthma, übrigens genau wie ihre beiden Schwestern. Trotzdem hat sie eine wichtige Rolle im Kampf gegen das Böse zu spielen - zumindest so lange, bis sie im Kampf stirbt, wir sie verheiraten, ins Kloster stecken oder bis sie irgendwann an Altersschwäche stirbt.
“Massive Chalice” ist das neue Spiel von Double Fine, jenes legendäre Entwicklerstudio, das vor allem durch seine humorvollen Adventures wie “Broken Age” oder “Psychonauts” bekannt ist. Der typische Humor von "Monkey Island"-Mitschöpfer und Double-Fine-Chef Tim Schafer durchzieht zum Glück auch dieses Strategiespiel, das uns in einen jahrhundertelangen Kampf um ein Fantasy-Königreich schickt. Als unsterblicher König sind wir für die Verteidigung zuständig, und das ganze 300 Jahre lang. Ein einzelnes, kurzes Heldenleben reicht dafür nicht aus - stattdessen brauchen wir ganze Familiendynastien, die uns hoffentlich möglichst starke Sprösslinge als Verteidiger hervorbringen.
Adel verpflichtet
“Massive Chalice” bedient sich mit beiden Händen am Strategieklassiker “XCOM”. In rundenbasierten Kämpfen führen wir jeweils fünf Helden mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Waffen und Persönlichkeiten ins Feld. Abseits dieser nur alle paar Jahre stattfindenden Schlachten gegen die mysteriöse dunkle Macht der "Cadence" sind wir mit der Verwaltung unseres Königreichs beschäftigt, wo wir Burgen und Klöster bauen, an neuen Waffen forschen oder aber unsere Adelsfamilien hegen und pflegen.
Wenn wir möglichst erfolgreiche Heldinnen und Helden zur Ruhe setzen und (zwangs-)verheiraten, gründen diese nämlich neue Dynastien, und je nach den Eigenschaften ihrer Eltern wachsen so junge, hoffentlich ebenso fähige Helden heran. In den jeweiligen Familien sammeln sich im Lauf der Zeit mächtige Erbstücke, die von den Eltern an die nächste Generation innerhalb der Familie weitergegeben werden.
Dass uns beim gewaltigen Zeitrahmen die einzelnen Figuren durch ihre relative Kurzlebigkeit nicht so wirklich ans Herz wachsen, ist durch die Betonung der jeweiligen Adelshäuser etwas leichter zu verschmerzen. Im Gegensatz zu "XCOM", wo uns einzelne Soldaten im Spielverlauf lange begleiten, müssen wir uns hier dafür laufend mit den Kindern, Enkeln und Urenkeln unserer ursprünglichen Vaterlandsverteidiger anfreunden - der Fokus liegt somit auch nicht so sehr auf dem Aufpäppeln einzelner Kämpfer, sondern auf dem klugen Taktieren mit möglichst zu unserer Strategie passenden Familien: Wer bei der Verheiratung seiner Helden danebengreift, hat bald Probleme mit Erbkrankheiten, fehlenden Heldenklassen oder mangelndem Nachwuchs.
double fine
Schwarzer Humor und Originalität
Bei so viel Sterblichkeit tut es gut, dass sich “Massive Chalice” mit einer großen Portion schwarzen Humors selbst nicht allzu ernst nimmt. Der Double-Fine-typische Zeichentrickstil trägt viel dazu bei, dass uns all die Familiengeschichten voller Vernunftehen, dauerndem Kampf und unvermeidlichem Verlust nicht aufs Gemüt schlagen. Das Geschehen wird überdies von zwei hervorragend gesprochenen Stimmen aus dem riesigen, magischen Kelch begleitet, der dem Spiel seinen Namen gibt. Neben praktischen Tipps haben die magischen Ratgeber, die Stimmen eines alten Mannes und einer Frau, auch sarkastische Kommentare zum Spielgeschehen zu bieten. Das im Setting erwartbare Pathos, mit dem der männliche Sprecher auch kleinste Ereignisse hochspielt, wird von der zu Scherzen aufgelegten Frauenstimme höchst amüsant auf die Schippe genommen.
"Massive Chalice" ist erschienen für Windows, Mac, Linux und XBox One.
Die Einzelteile des Strategie-Potpourris mögen nicht ganz so perfekt auf Hochglanz poliert sein wie beim großen Vorbild "XCOM", und auch das zu Beginn der Kickstarter-Kampagne gegebene Versprechen, durch das Management der Heldengenerationen völlig neuartige strategische Erlebnisse zu ermöglichen, scheint im Rückblick etwas zu vollmundig. Dennoch bietet "Massive Chalice" mit seinen soliden, im Spielverlauf knackiger werdenden taktischen Rundenkämpfen, aber vor allem durch das dennoch originelle Konzept, nicht nur einzelne Helden, sondern ganze Dynastien zu lenken, so einiges für all jene, denen die Wartezeit auf den angekündigten zweiten Teil der "XCOM"-Reihe noch zu lange ist. Das Rad wird hier zwar nicht neu erfunden - aber die neuen Felgen sind durchaus hübsch anzusehen.