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Robert Glashüttner

Videospielkultur, digital geprägte Lebenswelten.

9. 6. 2015 - 18:13

Die Vorurteile der selbsternannten Nerds

"In 80 Welten durch den Tag" heißt ein neues Sachbuch von zwei deutschen Fantasy-Autoren. Es will ergründen "warum Geeks mehr (vom) Leben haben".

Lange Zeit waren Nerds und Geeks für die sogenannten "normalen Menschen" jene seltsamen Leute, die nie in die Sonne gehen wollten und sich im Urlaub lieber mit Cola und Pizza in einer Fantasiewelt tummelten anstatt Eis essend am Strand zu flanieren. In den letzten zehn Jahren ist dieser Typus Mensch jedoch als Klischee breitenwirksam und bis zu einem gewissen Grad in der tatsächlichen Ausformung auch gesellschaftsfähig geworden. Untermauert wurde das etwa durch TV-Publikumsschlager wie "The IT Crowd" und "The Big Bang Theory", dem glorreichen Aufstieg von Comic-Verfilmungen in Hollywood und dem Umstand, dass Horn- und Metallbrillen sowie ein zeitgenössischer Remix von Casual-Mode aus den 1990er Jahren in die Street Fashion Einzug gehalten haben.

Wer sind diese Geeks eigentlich?

Buchcover von "In 80 Welten durch den Tag": einige Fantasy-Figuren in rot und orange, darunter Darth Vader, das Raumschiff Enterprise und Batman.

Cross Cult

Durch diese Sichtbarmachung hat auch innerhalb der vielen Nerd- und Geek-Zirkeln die Selbstverortung zugenommen. Das, was früher einfach "anders als die anderen" war und sich etwa insofern geäußert hat, dass man sich mehr für Star Trek als für Sport interessiert hat, wurde plötzlich ein Label, ein Lebensgefühl: Ich bin Geek und stolz darauf!

Alles gut, könnte man meinen, doch leider impliziert diese Zuordnung auch eine Schwarz/Weiß-Malerei, die im Wesentlichen nur die Unterscheidung "Normalo" und "Geek" mit all den dazugehörigen Vorurteilen kennt. Genau in diese Falle tappt der vor kurzem erschienene kleine Geek-Almanach "In 80 Welten um den Tag" von Andrea Bottlinger und Christian Humberg. Bei Lichte betrachtet, zeichnet sich ein Nerd oder Geek nicht durch ein bestimmtes Thema oder Interesse aus, sondern durch eine besonders konsequent ausgelebte Hingabe zu welcher Sache auch immer. Doch bei diesem Buch ist man zu eifrig mit dem Runterschreiben persönlicher Befindlichkeiten beschäftigt, als das man sich darüber Gedanken machen würde.

Literatur, Comics, Brettspiele, Cosplay, LARP

Es gibt keine Geeks und keinen Kanon

Die Idee, dass es typische Geek-Themenbereiche gäbe, die klar von den Interessen der "Normalos" zu trennen sind, sollte längst überholt sein. Abgesehen davon macht die Kategorisierung in "Geek" und "Nicht-Geek" im Alltag ohnehin wenig Sinn und sorgt letztlich nur für Vorurteile.

Weil die Auswahl an dem, was den Nerd-Kanon überlicherweise auszeichnet, viel zu groß ist, gehen die deutschen Fantasy-Autoren Bottlinger und Humberg mit ihrem Buch den naheliegenden Weg: Sie schreiben sehr subjektiv über das, was ihnen gefällt und wichtig erscheint. In erster Linie Fantasy-Literatur, Comics, TV-Serien und Filme sowie Cosplay und Brettspiele. Computerspiele kommen nur am Rande und in Form von Online-Rollenspielen vor. Dass Games einen riesigen Bereich der klassischen Geek-Themenfelder darstellen, wird mittels der sehr persönlichen Färbung des Buches einfach ausgeblendet bzw. bleibt unerwähnt. Die beiden Autoren kaprizieren sich stattdessen viel lieber auf kleine Anekdoten, die den kreativen Geist der Geeks bestätigen soll.

Sie sind der Doc, Doc, sage ich – dann muss ich grinsen. Und während er mit verständnislosem Stirnrunzeln zu bohren beginnt, denke ich an einen meiner Lieblingsfilme.

Fans

Das Prinzip des Fans wird im Buch hochgehalten. Ob ein mehr oder weniger starker Fanatismus positiver besetzt sein kann als Leidenschaft und Enthusiasmus?

An etwas Schönes oder Unterhaltsames denken, wenn man beim Zahnarzt ist oder in einer anderen Situation, in der man nichts zu lachen hat. Das macht eigentlich jede und jeder von uns dann und wann. Doch die beiden Autoren von "In 80 Welten durch den Tag" halten das offenbar für eine Besonderheit ihrer Community. Die ständige Abgrenzung von den Nicht-Nerds und das weinerliche Beklagen der angeblich fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz wird schon auf den ersten Seiten anstrengend. Dazu gehört etwa folgendes Mantra: Fantasy-Literatur ist gut, Belletristik ist doof. Denn die bösen und ignoranten Schreiberlinge vom Feuilleton sind immer so fies zu den Geeks und ihren Fantasie-Geschichten!

Die Produkte der Fantasie wurden schon oft dem Vorwurf der Minderwertigkeit ausgesetzt, als Schund und Schmutz verschrien. Ihre Schöpfer und Themen sind dem Feuilleton suspekt, ihre Anhänger gelten als schrill und realitätsfern.

Sexismus

A propos Selbstreflexion: Das unhinterfragte Übernehmen vieler zweifelhafter Darstellungen, Beschreibungen und Settings aus Comics und Fantasy-Romanen zieht sich durch das gesamte Buch. Das führt etwa auch zu sexistischen Spitzen im Zusammenhang mit "Jungfrauen", die "gerettet" werden müssen. Beim Lesen dieser Passagen sieht man das pubertäre Grinsen des fast 40-jährigen Koautors förmlich vor sich.

Mein Geektum ist geiler als deines

Es ist ein altbekanntes Problem mit Nerds und Geeks, denen es an kritischer Selbstreflexion mangelt: Einerseits wähnt man sich so arm, weil einen die sogenannte "normale" Gesellschaft nicht ernstnehmen würde, andererseits gefällt man sich in einer elitären Abgrenzung, bei der willkürlich bestimmte Dinge in den eigenen Kanon getan werden und andere verstoßen. Remember Gamergate? Das Grundprinzip ist in diesem Buch und wohl auch in vielen Köpfen selbstgefälliger Nerds - egal, welche Interessen sie verfolgen - leider genau dasselbe: Mein Geektum ist geiler als deines.

Es gibt Familien, die machen gemeinsame Spieleabende. Sollten Sie zu einem eingeladen werden, freuen Sie sich nicht zu früh. Lassen Sie Ihre Rollenspiel-Regelwerke und Brettspiele mit Regeln, die mehr als zehn Seiten umfassen, lieber zu Hause. Hier werden Sie Produkte wie "Monopoly" und "Mensch, ärgere dich nicht" erwarten. Ja, das finden wir auch schade.

Schwarz/weiß-Malerei fürs Klo

"In 80 Welten durch den Tag" ist als launige Klolektüre im Kleinformat gestaltet, wo nach jeder dritten Seite ein neues Unterkapitel beginnt und man ständig mit halblustigen Listen und Reisetipps für Fantasy-Orte bespaßt wird. Das ist übrigens ein Wort, an dem sich Andrea Bottlinger und Christian Humberg gerne abarbeiten: Denn Spaß verstehen und haben würden natürlich nur die Kind gebliebenen Nerds und Geeks, denn die anderen sind die langweiligen Erwachsenen, die natürlich furchtbar einfallslos und spießig sind. Grundsätzlich, immer und überhaupt.

"In 80 Welten durch den Tag" von Andrea Bottlinger und Christian Humberg ist bei Cross Cult erschienen.

Fragt sich nur, wie kreativ es ist, aus Comics und TV-Serien im Alltag zu zitieren und sich dabei selbstgefällig in seiner sogenannten Subkultur zu suhlen. Jenes Leben zu führen, das man führen möchte und sich Gleichgesinnte zu suchen, ist wichtig. Es sich dabei schnöselig in einer sozialen Blase bequem zu machen, kann aber auch nicht das Ziel sein.