Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Aus dem Gefängnis China"

Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

10. 6. 2015 - 15:24

Aus dem Gefängnis China

Chen Guangcheng, einer der bekanntesten Bürgerrechtler Chinas, legt nach seiner Flucht in die USA eine Autobiografie vor, die ein China jenseits der Hochglanzmetropolen zeigt.

Vor drei Tagen war es groß in den Schlagzeilen: China will nach dem Vorbild Moskaus ein neues Gesetz verabschieden, um NGOs im Land stärker zu kontrollieren. KritikerInnen aus EU und USA fürchten, dass es vor allem darum geht, KritikerInnen zum Schweigen zu bringen.

Dass es mit der Menschenrechtssituation in China ohnehin nicht zum Allerbesten steht, ist bekannt. Wie schlimm es aber wirklich ist, kann man an einzelnen Schicksalen nachverfolgen, etwa an jenem von Chen Guangcheng, den die Machthaber für seinen Einsatz für Bürgerrechte büßen haben lassen und der jetzt, im Exil in den USA, in seiner Autobiografie "Der barfüßige Anwalt", ein verstörendes Bild Chinas zeichnet.

Ein "nutzloser" Mensch

Chen Guangcheng

- public domain -

Schon die Schilderungen aus Chen Guangchengs Kindheit zeigen alles andere als eine gerechte oder freie Gesellschaft. Er kommt am Land zur Welt, in der Provinz Shandong südlich von Peking während der Kulturrevolution, in einer Zeit großer Not - und schon bald landet er auf der untersten Stufe der sozialen Leiter: Er erblindet als Kind, was ihn im ländlichen China zu einer Belastung macht, für seine Familie und das Dorf. Unfähig, für sich selbst zu sorgen, nutzlos für die Dorfgemeinschaft, scheint er es nicht wert, dass man irgendetwas in ihn investiert.

Als Wahrsager oder Geschichtenerzähler könnte er vielleicht zum Familienbudget beitragen, doch Chen Guangcheng will sich mit diesen Aussichten nicht abfinden. Er erkämpft sich einen Platz in der Blindenschule der Kreishauptstadt, später sogar einen Studienplatz und als andere Menschen auf ihn zukommen, um seine Erfahrungen im Umgang mit den Behörden zu nutzen, wird Chen Guangcheng zum "barfüßigen Anwalt", wie autodidaktische Rechtsanwälte in China bezeichnet werden. Gemeinsam mit seiner Frau will er einfachen Menschen eine Möglichkeit zum gewaltlosen Widerstand gegen das von ihnen erlittene Unrecht geben, um das Recht, das auf dem Papier gilt, vor den lokalen Kommissionen der Kommunistischen Partei durchzusetzen.

Das Erbe der Kulturrevolution

Nach einigen Erfolgen beginnt Chen Guangcheng sich gegen die "Ein-Kind-Politik" zu engagieren, die KP-Kader in seiner Provinz besonders rigoros exekutieren: Schlägertrupps treiben Frauen zusammen, die bereits zwei oder mehr Kinder zu Welt gebracht haben und lassen sie sterilisieren. Schwangere werden zur Abtreibung gezwungen. Wer sich wehrt, wird zusammengeschlagen oder gefoltert, beraubt oder erpresst. Schätzungsweise 520.000 Menschen haben solche Schicksale erlitten, bis zu 130.000 Frauen wurden zu einer Abtreibung oder Sterilisation gezwungen. Chen Guangcheng und einige MitstreiterInnen notieren dutzende Geschichten von äußerster Brutalität, die ihn zu einer Feststellung führen:

"Ihre Geschichten haben mir gezeigt, dass die Kulturrevolution nie wirklich beendet worden ist - sie hat lediglich metastasiert. Sie wird fortgesetzt, wann immer die Partei eine Kampagne gegen Menschen startet, die sich für Bürgerrechte einsetzen, einer Religionsgemeinschaft angehören [...] oder mehr als ein Kind in die Welt setzen wollen. Jeder - jeder - kann zum Opfer einer solchen Kampagne werden."

Als Chen Guangcheng den Bürgermeister wegen der brutalen Durchsetzung der Familienplanungskampagne verklagen will, wird er selbst zum Opfer. Er wird festgenommen, in einem Scheinprozess verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Nachdem er seine Strafe abgesessen hat, ist er jedoch alles andere als frei. Im Gegenteil: Er wird mit seiner Familie im eigenen Haus eingesperrt, ohne Urteil.

Um das Haus und durch das Dorf ziehen sich mehrere Überwachungskreise. Mehrere hundert Personen überwachen ihn zu kritischen Zeiten, lassen niemanden von außerhalb ins Dorf - JournalistInnen, SympathisantInnen und sogar Prominente wie Christian Bale versuchen in dieser Zeit, zu Chen Guangcheng durchzukommen - und unterbinden jeden Kontakt zur Außenwelt mit Störsendern, überraschenden Hausdurchsuchungen oder roher Gewalt. Mindestens 60 Millionen chinesiche Yuan (mehr als acht Millionen Euro), hat diese Überwachung wohl gekostet, wie Chen Guangcheng schätzt, und dennoch schafft er es nach eineinhalb Jahren Hausarrest in einer spektakulären Aktion - ein Blinder und schwerkranker Mann, der mehrere Überwachungsringe überwindet - in die US-Botschaft zu fliehen.

Ein anderes Bild von China

buch cover chen

Rowohlt Verlag

Chen Guangchengs Autobiografie "Der barfüßige Anwalt" ist in der Übersetzung von Stephan Gebauer im Rowohlt-Verlag erschienen.

Chen Guangchengs Biografie ist allein schon ob seines Lebens und seiner Fluchtgeschichte spannend genug, lesen sollte man sie aber vor allem, um das eigene Bild von China einem Realitätscheck zu unterziehen: Statt Hochglanzmetropolen schildert Chen Guangcheng nämlich die Armut und die Rückständigkeit auf dem Land, auf dem noch immer quasifeudale Zustände herrschen, wo die Bevölkerung rechtlos ist, korrupten, gewalttätigen und allmächtigen Parteikadern ausgeliefert, vor denen sogar die Gerichte kapitulieren. Der Wohlstand hat das Land noch nicht erreicht. In einem kürzlich anlässlich des Jahrestags des Tian'anmen-Massakers veröffentlichten Artikel in der Washington Post, meint Chen Guangcheng sogar, dass das Leben am Land für viele Menschen schwieriger als jemals zuvor wäre. Und nicht einmal in China selbst bekomme man das alles mit. "Die chinesischen Städter wissen oft wenig darüber, was auf dem Land geschieht."

Chen Guangcheng versucht noch aus dem Exil in den USA, die er übrigens auch nicht mit Kritik verschont (ihren Einsatz für Menschenrechte würden sie zu oft ihren Wirtschaftsinteressen und zwischenstaatlichen Beziehungen opfern), Aufklärung zu betreiben. Mit seiner Geschichte will er andere Menschen im Kampf für Gerechtigkeit inspirieren, der für ihn nur von unten kommen kann:

"Um eine Gesellschaft zu verändern, müssen sich ihre Mitglieder zusammentun und ihre Rechte einfordern. Die Herrschaft des Rechts ist unerreichbar, wenn das Volk auf einen Wandel von oben wartet."

In Chen Guangchengs Autobiografie finden sich dutzende Beispiele, wie das funktionieren könnte.