Erstellt am: 6. 6. 2015 - 13:41 Uhr
Bittere Landjugend
Das Leben auf dem Land ist oft nicht pittoresk, herbstlaubromantisch und echt-ehrlich, gerne ist es auch öde, ignorant oder beengend. Der gerade mal 22-jährige französische Autor Édouard Louis hat vergangenes Jahr mit seinem Roman "Das Ende von Eddy" die Geschichte von einem trostlosen, brutalen Dorfleben in der nordfranzösischen Provinz geschrieben und damit in seiner Heimat einen Überraschungserfolg hingelegt.
"Das Ende von Eddy" ist ein Buch für die Selbstbestimmung, gegen das Zugrundegehen an den Zwängen, gegen Homophobie - und funktioniert auch in der sorgsamen deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel bestens. Das Buch ist stark autobiografisch gefärbt, seine Hauptfigur heißt Eddy Bellegueule - der Geburtsname des Autors.
"An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt."
John FOLEY/Opale/StudioX
Nach diesem wenig erbaulichen Beginn folgen 200 Seiten voller Schmerz und Tristesse. Eddy wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, sein Vater ist Trinker und gewalttätig. Das Buch nimmt in den späten Neunzigerjahren seinen Anfang, im Dorf gelten dabei noch Werte aus grauer Vorzeit: Echte Männer fahren Moped und schlagen sich, sie gehen früh von der Schule ab, arbeiten in der Fabrik und saufen.
Frauen sind Verkäuferin oder Friseuse und bekommen viele Kinder, kochen. Ausländer findet man nicht so gut. Der weichliche, feminine Eddy ist da ein Fremdkörper. Fußballspielen ist nichts für ihn - auch weil er das gemeinsame Gruppenduschen meiden will, um nicht in verdächtige Situationen zu geraten - vielmehr interessieren ihn Kunst, Tanz und Schauspiel.
"Als Vater unterstrich man seine Virilität durch seine Söhne, man war es sich schuldig, ihnen die Werte der Männlichkeit zu vermitteln, und das hatte mein Vater auch mit mir vor, einen echten Kerl würde er aus mir machen, sein männlicher Stolz stand auf dem Spiel."
Früh entdeckt Eddy seine Homosexualität - sie in so einem Umfeld öffentlich auszuleben oder überhaupt zuzugeben, ist nicht vorgesehen. Hinter verschlossener Tür trägt er die Kleider seiner Schwester, in einem Schuppen kommt es zu ersten sexuellen Annäherungen mit anderen Jungen. Als diese auffliegen, wird einzig Eddy, mittlerweile im Dorf schon als "Tussi" bekannt, geächtet, bei allen anderen werden sie als Spielereien vom Tisch gewischt.
S.Fischer
In der Schule wird Eddy regelmäßig gedemütigt, bespuckt, verprügelt. Er fügt sich in die Erniedrigung, lässt sie lieber fast freiwillig geschehen, im Geheimen, als öffentlich seine Verzweiflung einzugestehen. Eddy will als glücklich gelten, nicht schwach. Auch wenn jeder im Dorf weiß, dass Eddy, wie es heißt, anders ist, muss nach außen hin "Normalität" vorgegaukelt werden.
"Ich weiß nicht, ob die beiden Jungen ihr Verhalten als brutal bezeichnet hätten. Die Männer im Dorf benutzten dieses Wort nie, in ihrem Mund gab es das nicht. Für einen Mann war Brutalität etwas Selbstverständliches, Natürliches."
Eddy versucht, sich seine Gefühle auszureden, gemeinsames Masturbieren zu Pornofilmen mit anderen lässt er aus, probiert es bisweilen auch mit weiblichen Freundinnen. Viel mehr muss nicht geschehen. Bei aller Traurigkeit und Verbitterung greift Autor Édouard Louis nie in den gefühligen Schmalztopf. Der Roman ist nüchtern und klar erzählt, die tollen Klischees vom herzerwärmenden Landleben, Apfelbaum, Versteckspiele in Maisfeldern, kuhwarme Milch, Bauernhof, Wandern, Wald, Kastanien betet Louis ungerührt in einem einzigen Absatz herunter, dann ist wieder Zeit für Erstarrung im aschefarbenen Alltag.
"Das Ende von Eddy" berichtet von unmenschlichen Bedingungen, Systemen und Vorurteilen, die als gegeben, selbstverständlich hingenommen werden. Genauso aber erzählt das Buch auch - und das ist eine Stärke - von Selbstzweifel, Selbsthass und Selbstbeschwichtigung. Auch Eddy selbst muss sich dabei erwischen, wie er einen anderen als "Schwuchtel" beschimpft. Nach ewiger Aussichtlosigkeit und Zerknirschung kommt dann doch die leise Hoffnung: Die Flucht, das Ausbrechen kann gelingen. Man kann der Mensch sein, der man ist.
"Ich kam zu den Feldern und wanderte einen Großteil der Nacht herum, auf den Feldwegen, in der Kühle Nordfrankreichs, in dem zu dieser Jahreszeit so intensiven Geruch der Rapsfelder. Die ganze Nacht über entwarf ich mein neues Leben fern von hier."