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Claus Pirschner

Politik im weitesten Sinne, Queer/Gender/Diversity, Sport und Sonstiges.

8. 6. 2015 - 20:45

Das Versuchskaninchen wehrt sich

Diskussion über Wege aus der humanitären Krise und den neoliberalen Modellversuch: Ein FM4 Auf Laut live aus Athen.

Mitarbeit: Chrissi Wilkens

"Wir sind das Versuchskaninchen von Europa und dem Internationalen Währungsfonds! Was uns hier aufgezwungen wird, das wird auch über andere Länder verhängt werden. Das hat auch eine große symbolische Bedeutung. Die Demokratie ist in diesem Land geboren und nun reißen sie die Demokratie und auch das soziale Gesicht Europas ab" - das sagte mir Christos Sideris während der ersten FM4 Sendung aus Hellas in der Krise vor drei Jahren.

FM4 Auf Laut

    Sideris ist Mitbegründer der ersten von 40 Solidaritätskliniken in Griechenland. Das Land am Peloponnes ist besonders hart von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen. Woran für die meisten Medien im deutschsprachigen Raum "die Griechen" quasi ausschließlich selbst schuld sind. Stereotype über die Mentalität werden bemüht, um die Ursache der Überschuldung des Staates zu erklären.

    Tatsächlich trägt Griechenland Verantwortung, zumindest die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die das Land bis zu den Wahlen vergangenen Jänner beherrscht haben. Zugleich gibt es aber auch eine internationale Mitverantwortung an der Ausformung der internationalen und der nationalen Krise in Griechenland: Von Bilanztricks empfohlen durch Goldmann Sachs, über die Involvierung von EU-VertreterInnen in Steuerungsgruppen zu Geldflüssen nach Griechenland bis hin zu europäischen Rüstungsbetrieben als Profiteure vom überhöhten Heeresbudget (siehe hier ab Absatz Mythen der Krise).

    Anfänglich kamen nach dem Wahlsieg von Syriza im Jänner auch zusehends Medienberichte über die humanitäre Katastrophe. Mittlerweile dominieren wieder Meldungen mit dem Hang zur Diffamierung der griechischen Regierung in den Verhandlungen mit den internationalen Geldgebern. Gespeist werden diese Meldungen - wie der Journalist Nikos Sverkos schreibt - von in Brüssel angesiedelten Agenturen. Syriza Berater Theodoros Paraskevopoulos spricht im FM4 Interview von einem "Stellungskrieg", bei dem Grundrechte umgangen werden.

    Athen Sozialklinik

    ORF Radio FM4

    Sozialklinik in Athen

    Reformauflagen als Krisenverstärker

    Ich war seit 2012 mehrmals in Griechenland, um zu berichten, wie die Bevölkerung sich in der humanitären Krise durchschlägt - eine Krise, die im aktuellen Ausmaß mitverursacht wird durch die Spar- und Reformauflagen von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank. Dazu zählten insbesondere die Beendigung nationaler Kollektivvertragsverhandlungen und die Herabsetzung des Mindestlohnes auf 586 Euro ebenso wie Massenentlassungen, etwa beim öffentlich rechtlichen Rundfunk ERT. Arbeitslose wurden defacto weitgehend vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. Die Arbeitslosenrate ist seit Umsetzung der Programme auf katastrophale 25% hinaufgeschnellt, bei Jugendlichen sogar an die 60%. Die Suizidrate und die Kindersterblichkeit gingen nach oben.

    Neue Solidarität in der Bevölkerung

    Wie hat die Bevölkerung in der Krise bisher überlebt bzw. wie reagiert sie darauf politisch in den letzten Jahren? Viele leben in Angst und versuchen irgendwie über die Runden zu kommen, die Krise ist zur Normalität geworden. Ein größer werdender Bevölkerungsteil wendet sich den Neonazis der Goldenen Morgenröte zu, deren Parteiführung nun vor Gericht steht. Aber ein noch größerer Teil der Menschen organisiert sich in neuen Solidaritätsnetzwerken: In 40 neu gegründeten Sozialkliniken versorgen ÄrztInnen ohne Lohn vom Gesundheitssystem ausgeschlossene Menschen gratis. Lebensmittelkooperativen, die den Zwischenhandel ausschalten oder eigene Produkte sogar herstellen, sprießen ebenso aus dem Boden wie Nachbarschaftshilfen. "Strompiratinnen" schließen verarmte Haushalte wieder ans Elektritzitätsnetz an.

    Die meisten Initiativen kämpfen gegen die Zerschlagung des Sozialstaates und von Arbeitsrechten an. Sie wollen das verlorengegangene Gemeinwohl nicht bloß notdürftig kompensieren, sondern sie verlangen den Wiederaufbau des öffentlichen Sozialsystems und einen akzeptablen Mindeststandard an Arbeitsrechten. Immer weniger Menschen wählen schließlich die etablierten Parteien, die mitverantwortlich sind für den Abgrund, in dem sich das Land befindet.

    Im Jänner wurde die linke Partei Syriza zur stärksten Partei Griechenlands und übernimmt die Regierung. Was hat sich seitdem vor Ort getan?

    Alexis Tsipras

    APA/EPA/YANNIS KOLESIDIS

    Was tut sich seit dem Machtwechsel?

    Trotz der Schuldenproblematik ist es gelungen, die allerärmsten Familien - jene unter einem Jahreseinkommen von 4800 Euro - mit digitalen Lebensmittelkarten für den Einzelhandel zu versorgen. Krankenhausgebühren wurden reduziert. 300.000 Haushalte, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten, wurden wieder ans Stromnetz angeschlossen. Der von der Vorgängerregierung vor zwei Jahren über Nacht geschlossene öffentliche Rundfunk ERT wurde wieder aufgesperrt. Studierende dürfen bei Universitätsfragen wieder mitentscheiden.

    Tsipras

    EPA/SIMELA PANTZARTZI

    Die seit der Krise unterbesetzten Schulen dürfen wieder LehrerInnen anstellen. Zusehends überfordert ist der Staat zweifellos mit den zunehmenden Flüchtlingen - die meisten sind obdachlos und können nicht versorgt werden - vielleicht das wichtigste Argument, dafür, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa besser aufgeteilt wird. Nicht bezahlte Steuern können ohne Strafen und reduziert in Raten abbezahlt werden - eine erste wenn auch umstrittene Maßnahme, die aber zumindest wieder Geld in die Staatskassen bringt.

    New Deal für Europa?

    "Da ist ein großes offenes Fenster der Hoffnung in Südeuropa, ein neues Set an Regeln zu bekommen am europäischen Verhandlungstisch. Dieser enge Schuh der Austerität schmerzt europäische Bevölkerungen.Wir müssen das nun ändern", sagte mir die Journalistin Christina Siganidou nach dem Syriza Wahlsieg. Anchorwoman Siganidou hat nach der Schließung des öffentlichen Rundfunks im Landesstudio ERT Thessaloniki bis heute unbezahlt weitergearbeit, hat mit KollegInnen ERT Open selbst verwaltet geführt und weiter Sendungen gemacht.

    Hohe Zugewinne bei Regionalwahlen in Spanien von Podemos, die sich erst vor einem Jahr gegründet hat und wie Syriza gegen die Sparpolitik auftritt, verschaffen den Rufen nach einem neuen europäischen Deal Aufwind. Ergebnisse bevorstehender nationaler Wahlen in Spanien und in Portugal noch heuer könnten eine südeuropäische Allianz in dieser Frage stärken. Und medial wird ein New Deal - wenn auch darunter wieder viel Verschiedenes verstanden werden kann - inzwischen immerhinandiskutiert.

    Protestierende vor dem ERT-Hauptsitz

    EPA /ALKIS KONSTANTINIDIS

    Am Dienstag: FM4 Auf Laut live aus Athen vom wiedereröffneten öffentlichen Rundfunk

    Schafft Griechenland einen Ausweg aus der humanitären Krise? Wie ergeht es der Bevölkerung nach einem halben Jahr Syriza Regierung ? Ich diskutiere darüber in Athen live mit Christos Sideris, mit ERT Journalist Nikos Tsibidas, der für die Wiedereröffnung des Senders gekämpft hat, mit der FM4 Griechenland Korrespondentin Chrissi Wilkens und mit AnruferInnen.

    Zu hören am Dienstag, 9. Juni 2015 ab 21 Uhr in FM4 Auf Laut und gleich im Anschluss für eine Woche unter fm4.orf.at/7tage.

    Anrufen und mitdiskutieren unter 0800-226996 und international unter 0043-1-5036318