Erstellt am: 2. 6. 2015 - 20:31 Uhr
Ende der Überwachungspause in den USA
Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Publikation des ersten Snowden-Dokuments ist jenes Überwachungsprogramm außer Kraft, das Thema der ersten Story Glenn Greenwalds 2013 war. Eine relativ kleine Gruppe libertärer Republikaner und liberaler Demokraten hatte die Verabschiedung des Nachfolgegesetzes "USA Freedom Act" durch einen Geschäftsordungstrick in der Nacht auf Montag im Senat verhindert.
Es ist jedoch nur eine Frage von Stunden, bis die NSA wieder - wenn auch eingeschränkt - auf die Metadaten aus den US-Telefonienetzen zugreifen kann. Im Wesentlichen dürfte sich nur das Prozedere ändern und eher in Richtung gezielter Zugriffe gehen. Beobachter gehen davon aus, dass Präsident Barack Obama das Gesetz so schnell wie möglich unterzeichnen wird.
Update 00:40
Am Dienstag Abend hatte sich der Senat grundsätzlich auf die im Repräsentantenhaus verabschiedete Version "US Freedom Act" geeinigt. Alle drei Änderungsanträge, die der republikanische Senator Mitch McConnell in letzter Minute eingereicht hatte, die auf lange Übergangsfristen samt Einschränkung der parlamentarischen Aufsicht hinausliefen , wurden abgelehnt. Beschlossen ist das neue Gesetz damit noch nicht, aber die letzte Hürde wurde genommen.
Anstelle des Totalabgriffs durch die NSA ist darin eine Vorratsspeicherung der Metadaten bei den Telekoms vorgesehen, die Zugriffsbedingungen sind noch umstritten. Die neue Maßnahme betrifft auch weniger die NSA, als vielmehr das FBI und weitere US-Polizeibehörden. Laut einer aktuellen Untersuchung des US-Justizministeriums kam das FBI über die NSA mindestes sieben Jahre lang ebenfalls an diese riesige Sammlung von Metadaten bei den US-Telekoms, ohne dafür jemals ein ordentliches Gericht einschalten zu müssen. Sollte diese Version des US Freedom Act beibehalten werden, müsste das FBI in Hinkunft Überwachungsanträge dafür stellen.
Die Spaltung im republikanischen Lager hatte sich schon länger abgezeichnet. Die Diskussionen wurden mit zunehmender Erbitterung geführt. Senator Rand Paul und andere nutzten jede Möglichkeit der Geschäftsordnung, um das Auslaufen des Gesetzes erzwingen
Verdacht auf weitere Geheimprogramme
Immer mehr Beobachter halten es zudem für sehr wahrscheinlich, dass weitere, noch nicht bekannte Überwachungsprogramme existieren, die den ausgelaufenen Gummiparagrafen "Section 215" ebenfalls benutzten. Wenn dieser Paragraf - in dem völlig anderes steht (siehe weiter unten) - auf die Metadaten der Telekoms angewendet werden kann, dann ist er ebenso gut dazu geeignet, um etwa alle Kreditkartentransaktionen in den USA en Gros zu erfassen.

Public Domain
Was die Neuregelung nun konkret bedeutet, darüber gehen die Einschätzungen ziemlich auseinander. Bürgerrechtsorganisationen wie die Electronic Frontier Foundation (EFF) sehen den US Freedom Act als ersten Schritt in die richtige Richtung, damit zufrieden ist man allerdings ebensowenig wie die rebellischen Senatoren. Der libertäre Senator Rand Paul (R) und andere forderten hingegen ein ersatzloses Auslaufen der Bestimmungen.
Der "greifbare Dinge"-Spin
Den Hardlinern der republikanischen Senatsmehrheit wie Mitch McConnell geht der bereits im Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit verabschiedete US Freedom Act wiederum viel zu weit. Diese weit größere Gruppe von Senatoren wollte hingegen unbedingt den "PATRIOT Act" verlängern, deshalb kam es in der vergangenen Woche zu einer Pattstellung im Senat. Das stützt eine Hypothese, die zuletzt immer öfter in der Argumentation der Gegner aufgetaucht ist, dass nämlich der ausgelaufenen Paragraf 215 des US PATRIOT Act von 2001 neben dem Generalabgriff sämtlicher US-Telefoniedaten noch für ganz andere Überwachungsprogramme herhalten musste.

Public Domain
Vom Wortlaut her ist es eine bloße Vollmacht zum Zugriff auf Daten ("Business Records") bei Firmen oder Institutionen, mit denen ein Verdächtiger Beziehungen unterhält. Bestellungen bei Versandhäusern, Ausleihen in Bibliotheken, Buchungen von Mietwagen und Ähnliches ist da gemeint, wobei sich der Gesetzestext ausdrücklich auf "greifbare Dinge" bezieht. Dass über diesen Paragrafen alle Metadaten der US-Telekoms in Bausch und Bogen abgezogen wurden, ermöglichte erst ein Geheimbeschluss des Aufsichtsorgans für Geheimdienste, des FISA Court.
In einer dort beschlossenen - natürlich hochgeheimen - Neuinterpreation von "Section 215" wurden Metadaten - wer mit wem wann wo telefoniert - zu "greifbaren Dingen" erklärt. In Folge genügte eine einzige solche administrative Order pro Telekomunternehmen, um drei Monate lang sämtliche Metadaten aller Telefonate aus allen US-Netzen en Gros und nahe an Echtzeit abzusaugen.
Wie alles 2013 begann
Im allerersten Artikel Glenn Greenwalds vom 5. Juni 2013, der auf Sowden-Dokumenten basierte, wird der Paragraf 215 wie auch im Dokument selbst nicht erwähnt, deshalb herrschte anfangs großes Rätselraten, auf welchem Gesetz denn dieser Totalabgriff basieren könnte. In der Order des FISA-Geheimgerichts wird aber mehrfach der Begriff "greifbare Dinge" ("tangible things") verwendet, das ist der Leitbegriff von "Section 215".

Public Domain
In der von Greenwald veröffentlichten Order wird "eine elektronische Kopie folgender greifbarer Dinge" gefordert: Alle Metadaten von allen Inlands- und Auslandstelefonaten, die in den US-Netzen anfallen. Rein ausländischer Telefonieverkehr - Verizon ist global einer der größten Carrier und Netzbetreiber - war von der Order nicht betroffen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass diese Datensammlung weniger für die NSA gedacht war als vielmehr für das FBI und andere Polizeibehörden, denen diese Datensammlungen dann zur Verfügung gestellt wurden.
Wenn es gegen Verschlüsselung geht, so haben NSA und FBI weitgehend deckungsgleiche Interessen. Seit Herbst kamen von den Chefetagen beider Organisationen wieder Kassandrarufe zu sicherer Verschlüsselung und Terroristen
Das FBI, die Schnittstelle zwischen Geheimdienstwelt und Polizei, wird denn auch in der FISA-Order gleichberechtigt mit der NSA erwähnt.
Während der damalige NSA-Direktor bereits vor einem Jahr erklärt hatte, das Ende dieses Programms bedeute keinen großen Verlust für die NSA, kamen zuletzt immer düstere Warnungen von der CIA, vor allem aber vom FBI. Dessen Direktor James Comey sah im Auslaufen ein "Riesenproblem" für die Strafverfolgung im Allgemeinen. Aus den Untersuchungsbericht des Justizministeriums geht hervor, dass Massensuchvorgänge beim FBI die Regel waren, ohne dass ein konkreter Anfangsverdacht vorlag.

Public Domain
Republikanischer Rätselkurs
Eine wachsende Zahl von Beobachtern dieses Geschehens hält es für möglich, dass diese Neuinterpretation von 215 auch für ganz andere Datensammlungen gelten könnte. Im Text ist nur von "geschäftlichen Aufzeichnungen" die Rede, in den Greifbares gesucht werden sollte. Wenn darunter auch Metadaten verstanden wurden, dann wäre es ebensogut möglich, dass zum Beispiel Kreditkartentransaktionen systematisch unter demselben Paragrafen abgezogen wurden. Die Existenz eines oder mehrer anderer, noch unbekannter Überwachungsprogramme, die nach demselben Modus funktionieren, würde den sonst nicht recht nachvollziehbaren Kurs der republikanischen Hardliner im Senat erklären.
Erst Tage nach dem Auffliegen der Generalüberwachung bei Verizon wurde die wahren Dimensionen dieses Programms klar. Es ging um 150 Millionen Kunden und eine Milliarde Metadatensätze pro Monat
Während die Parteikollegen im Repräsentantenhaus den "US Freedom Act" mehrheitlich mitverabschiedet hatten, lehnten die republikanischen Senatoren ihn ab. In Folge setzten Senator Mitch McConnel und Co alles daran, um Paragraf 215 irgendwie in eine Verlängerung zu retten, die Folge war ein Patt und das Auslaufen von 215 am Sonntag, Ortszeit um Mitternacht. Wie schnell der auf dem Weg durch das Repräsentenhaus bereits reichlich verwässerte "US Freedom Act" nun verabschiedet werden kann, ist derzeit schwer zu sagen.
Wie es weiter geht
McConnell und andere hatten nach ihrer Niederlage im Senat erklärt, der Version des Repräsentantenhauses so nicht zustimmen zu können und Änderungen am Text des Freedom Act verlangt. Eine durch den Senat veränderte Version wiederum müsste aber erneut durchs Repräsentantenhaus. Es ist also davon auszugehen, dass Abgeordnete aus beiden Häusern im Kongress derzeit versuchen, einen Kompromiss aushandeln, der sich relativ schnell über die Bühne bringen lässt. Die NSA hat jedenfalls bereits am Sonntag Nachmittag begonnen, ihre Abzapfmaschinerie in den Datenzentren der Telekoms herunterzufahren.
Was mögliche andere Überwachungsprogramme betrifft, die von "Section 215" gedeckt waren, nicht jedoch im "US Freedom Act" vorgesehen sind, so könnte es bald Hinweise geben, die Rückschlüsse auf die Gründe für die auffälligen Diskrepanzen unter den Republikanern erlauben. Die bisher strikt ablehnende Haltung der Senatsrepublikaner gegen die von den eigenen Parteikollegen im "House" mitgetragene Geheimdienstreform und die folgende Rebellion des libertären Flügels könnte davon herrühren, dass wenigstens die im "Select Committee" zur Kontrolle der Geheimdienste Senatoren etwas wussten, was ihren Kollegen im Repräsentantenhaus bei deren Abstimmung nicht bekannt war, oder immer noch ist.