Erstellt am: 6. 6. 2015 - 10:33 Uhr
Fensterputzen und Revolution
Wenn in Computerspielen gewaltsame Revolutionen stattfinden, sind wir meistens mittendrin und kämpfen auf der einen oder anderen Seite um den Sieg - meistens mit Schusswaffen, manchmal aus der Feldherrenperspektive. Nur ganz selten befinden wir uns als Spielerin oder Spieler in den Kulissen, während auf den Straßen um Freiheit oder andere große Ideale gekämpft wird. Doch in "Sunset", dem neuen Spiel der belgischen Ausnahme-Entwickler Tale of Tales, ist das alles ganz anders. Hier sind wir nämlich als Putzfrau in einem stylischen Apartment weit weg vom Geschehen und können nur hilflos beobachten, wie rund um uns eine ganze Stadt mehr und mehr im Chaos versinkt.
Freunden des besonderen Spiels ist das belgische Entwicklerpaar von Spielen wie "The Graveyard", "The Path", Luxuria Superbia" und "Bientôt l'été" ein Begriff, und auch dieses, ihr bislang aufwendigstes, per Kickstarter vorfinanziertes Projekt versucht sich am Niederreißen der Grenze zwischen Kunst und Videospielen - und das erfolgreich.
Das Erzählen der Dinge
Tale of Tales
Das Jahr ist 1972, und der Schauplatz ist San Bavón, die Hauptstadt eines fiktiven südamerikanischen Staates. In der Gestalt einer jungen schwarzen US-Amerikanerin, die trotz Ingenieursstudium als Putzfrau arbeitet, sind wir zuständig für die Pflege eines riesigen, ganz im Stil der späten Sechziger eingerichteten Apartments, an dem auch Don Draper aus "Mad Men" seine Freude hätte.
Einmal pro Woche sollen wir für den Besitzer Haushaltsarbeit erledigen, und zwar immer zur Zeit des Sonnenuntergangs. Zu sehen bekommen wir Gabriel, unseren Arbeitgeber, allerdings nie. Von der Terrasse seines Luxuslofts haben wir aus der Egoperspektive den Blick auf die Stadt, in der sich im Lauf der Geschichte eine brutale Revolution ereignet. Die großen Umwälzungen bleiben in unserem Umfeld, in unserer banalen Arbeit als Putzfrau nur scheinbar unsichtbar; wir sehen ihre Spuren aber dafür indirekt und werden nach und nach auch darin verwickelt.
Sage mir, wie du wohnst
Es ist ein Experiment mit dem Erzählen, das "Sunset" so spannend macht, denn in gewisser Weise macht Tale of Tales da weiter, wo "Gone Home" aufgehört hat: Es erweitert das Erzählen der Dinge um das Element der Zeit. Durch den gleichbleibenden Ort, der sich nur in vielsagenden Details verändert, können wir die Ereignisse draußen anhand vieler kleiner Beobachtungen nachvollziehen, und auch der unsichtbare Wohnungsbesitzer Gabriel Ortega wird uns immer vertrauter.
Wir ordnen seine Bücher, gießen seine Pflanzen, lesen schließlich seine Briefe und bekommen so immer deutlicher mit, dass auch er halb unfreiwillig an den immer dramatischer werdenden Ereignissen draußen beteiligt sein muss. Je nachdem, wie viel Einsatz und Liebe wir in unsere Arbeit stecken und wie weit wir ins Privatleben unseres Arbeitgebers eindringen wollen, erblüht sogar eine zarte Liebesgeschichte auf Distanz.
Tale of Tales
Alles ist politisch
Wie "Sunset" diese Zusammenhänge und damit seine Geschichte über Idealismus, Unterdrückung und Liebe erzählt, ist höchst originell und spannend. Sowohl die Heldin des Spiels als auch ihr Auftraggeber und sogar das Apartment selbst gewinnen im Verlauf der vielen Arbeitsbesuche an Charakter und Persönlichkeit - nicht zuletzt durch die fantastische Fülle an (real existierenden) Büchern, Kunstwerken und an Musik, die liebevoll verstreut im Spielverlauf für eine sprechende Umgebung sorgen.
Denn natürlich geht es, bei diesem Thema und diesem Konzept, auch um die Frage, wie sich das Politische im Alltäglichen spiegelt und umgekehrt. Was sagt Ortegas Liebe zur verbotenen Kunst über ihn aus? Wie gehen wir mit den offensichtlich vertraulichen Dokumenten auf Ortegas Schreibtisch um? Reagieren wir zurückhaltend oder neckisch auf die Botschaften, die er uns hinterlässt? Sogar die Hautfarbe der Protagonistin, die sich - als eigentlich privilegierte, nordamerikanische Akademikerin - mit der Rolle der schlichten Bediensteten irgendwie arrangieren muss, schwingt in der Erzählung mit.
"Sunset" ist für Windows, Mac und Linux erschienen.
Irgendwie stimmig: In einem Medium voll mit "epischen", auch historischen Revolutionshelden ist es ausgerechnet ein Spiel über eine vermeintlich ganz banale Figur, das sich auf derart subtile Art und Weise emotional, aber auch analytisch mit den großen Themen Kunst, Revolution, Unterdrückung und Zivilcourage beschäftigt. "Sunset" ist ein trotz vernachlässigbarer technischer Macken rundum geglücktes erzählerisches Experiment; mit der wunderbar gelungenen Atmosphäre, der emotionalen, spannenden Geschichte und seiner originellen Idee ist Tale of Tales ein weiteres Ausnahmespiel gelungen. Bravo!