Erstellt am: 3. 6. 2015 - 14:52 Uhr
Vom Klassenzimmer in den Dschihad
Lamya Kaddor ist Deutsche mit syrischen Wurzeln. Die Islamwissenschaftlerin und gläubige Muslima unterrichtet Religion und ist gern gesehener Talkshow-Gast, wenn es in Deutschland um die Themen Islam, Jugendliche und Frauen geht. Im Februar ist Kaddors Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen" erschienen. Kommende Woche liest Kaddor in Bregenz und Salzburg (Interview gemeinsam mit Imogena Doderer geführt).
Piper
Lamya Kaddor liest am Montag, den 8. Juni im Landhaus in Bregenz und am 10. Juni im Akzente Salzburg.
Frau Kaddor, wann wird Glaube zur Gefahr?
Glaube wird dann zur Gefahr, wenn er dogmatisch und absolutistisch verstanden wird und wenn ein apodiktischer Ruf da ist, dass er über allem zu stehen hat.
Der Salafismus ist eine relativ junge Strömung in Europa. Wie konnte er so schnell so populär werden und so viele Anhänger gewinnen?
Der Salafismus hat sich in Deutschland vor ungefähr zehn Jahren zum ersten Mal bemerkbar gemacht, v.a. durch Wanderprediger, die in Moscheen und anderen Orten gesprochen haben. Dann kamen die Koran-Stände in den deutschen Innenstädten. Inzwischen stehen Salafisten überall dort, wo sich junge Menschen nach der Schule oder dem Job aufhalten.
Was macht ihn für Jugendliche zu einer scheinbaren Alternative?
Es gibt immer einen Teil der Jugend, den man als verloren bezeichnen kann. Früher haben deutsche Jugendliche hauptsächlich rechts- oder linksextreme Tendenzen entwickelt. Momentan fühlen sich viele muslimische Jugendliche verloren. Sie würden im Rechtsextremismus aber wohl eher wenig Anerkennung finden. Der Linksextremismus hat – um es salopp zu formulieren – die Nische auch noch nicht für sich entdeckt. Der Salafismus hingegen fischt ganz gezielt nach diesen verlorenen Seelen. Er sagt den Jugendlichen: "Ihr seid als Muslime Opfer der deutschen Gesellschaft. Wir solidarisieren uns mit euch, denn auch wir sind Muslime also auch Opfer". Die Salafisten geben diesen Jugendlichen Halt und Orientierung – also etwas, das ihnen die Gesellschaft aber auch die Familie anscheinend nicht geben können. Dort setzen diese Menschenfänger an. Leider erfolgreich.
Ihr Buch "Zum Töten bereit" trägt den Untertitel "Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen". Warum ziehen sie in den Dschihad?
Sie tun es nicht aus religiösen Gründen und sie tun es auch nicht – zumindest am Anfang nicht – weil sie glauben, damit Gott zu dienen. Es sind soziale Gründe. Sie fühlen sich aufgenommen, anerkannt, ein Stück weit auch geliebt. Endlich ist da jemand, der sagt: "Wir akzeptieren dich, so wie du bist. Egal ob du Mehmed, Mohamed oder Sarah heißt. Egal ob du ein Kopftuch trägst oder nicht. Wir finden gut, dass du Muslim bist und wir können dir vielleicht dabei helfen, dass Gott das auch gut findet."
Über Integration oder Islamophobie wird in Europa schon lange diskutiert, doch noch nie haben sich so viele muslimische Jugendliche radikalisiert. Was ist da politisch oder gesellschaftlich passiert?
In der aktuellen Form hat das meiner Meinung nach mit dem "11. September" begonnen. Das ist ein Meilenstein in der Migrationsgeschichte von Muslimen nach Europa. Der sitzt uns immer noch im Nacken und zwar uns allen, Muslimen und Nichtmuslimen. Die Debatte, die im Anschluss geführt wurde, war sehr pauschalisierend. Der Islam müsse grundlegend reformiert oder gar abgeschafft werden. Wir haben endlos darüber diskutiert, ob der Islam zu Europa gehört oder nicht. Die Islamfeindlichkeit erreichte zwischen 2005 und 2010 einen ersten Höhepunkt, als dann auch Sarrazin sein Buch veröffentlichte. Wenn man sich wiederum die Geschichte des Salafismus anschaut, die hat in Deutschland ebenfalls 2005 begonnen und das ist kein Zufall. Ein Extrem bedingt häufig das andere. Natürlich muss der Islam kritisiert werden, wenn es Probleme gibt. Man kann das aber auch differenzierter und konstruktiver machen. Ich glaube, wir als Gesellschaft müssen eine gemeinsame Position entwickeln zum islamischen und generell religiösen Extremisten aber auch zum Beispiel zu Pegida.
Wie soll das Ihrer Meinung nach funktionieren? Anscheinend waren die Anstrengungen von Politik und Zivilgesellschaft bisher nicht ausreichend.
Das hätte schon viel früher beginnen müssen. Es ist ja nicht so, dass wir in Deutschland nicht wissen, wie man Pluralimus und Toleranz leben könnte. In der Theorie wissen wir das schon längst. Wir setzen es bloß nicht um. Die Frage ist, warum? Ich denke, man müsste ganz oben beginnen. Die Politik muss den Ton vorgeben, bis das durch alle Gesellschaftsschichten durchgedrungen ist und der letzte versteht, dass wir in einem Staat leben, der durch Pluralismus geprägt ist. Der Deutsche von heute kann Muslim sein und der Muslim von heute kann Deutscher und Europäer sein. Das muss die Mehrheitsgesellschaft verstehen lernen, das müssen aber auch Minderheiten wie etwa die muslimische Community annehmen.
Welche Personengruppe ist denn besonders empfänglich für die Propaganda der Salafisten und des IS?
In der Regel junge Männer im Alter zwischen 15 und 25, aber zunehmend auch Frauen. Wir wissen, dass zwischen 10 und 15% der Salafisten weiblich sind. Es ist das Alter der Identitätsfindung. Man stellt sich häufig Fragen wie: "Wer bin ich, was macht mich aus, wer will ich sein?" Man kann durch gezieltes Fragen relativ schnell herausfinden, ob jemand Identitäsprobleme hat oder über eine labile Persönlichkeitsstruktur verfügt.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich die Salafisten regelrecht in das Leben der Jugendlichen einschleichen. Wie stellen sie das an?
Die ersten Gespräche sind noch seicht. Da geht es meistens gar nicht um Religion. Es wird über Fußball gesprochen, über Mode, Musik oder Mädchen. Später werden dann gemeinsame Abende organisiert oder Sport betrieben. Im nächsten Schritt thematisieren sie Religion. Zunächst wird nur über die Vorzüge des Islam gesprochen. Das Wort Dschihad fällt da noch überhaupt nicht. Dann kommt Politik ins Spiel, dann die Vorstellung von einem islamischen Staat. Bis zur Radikalisierung dauert es in der Regel zwischen einem und drei Jahren. Mittlerweile wissen wir aber, dass sich diese Zeitspanne extrem verkürzt hat. Manchmal gelingt es den Salafisten, die Radikalsierung in vier Monaten abzuschließen.
Sie haben diese Situation ja ganz nahe erlebt. Sie unterrichten Religion im Ruhrgebiet und mussten erfahren, dass einige ihrer Ex-Schüler in den Dschihad gezogen sind. Was ging denn da durch Ihren Kopf, als Sie davon erfahren haben?
Meine Familie stammt aus Syrien. Da ist man von der derzeitigen Situation ohnehin betroffen. Aber es ist noch einmal etwas anderes, wenn man Menschen kennt, die freiwillig in diese Region losziehen, die eigentlich keinerlei Bezug zu Syrien haben und die sagen, sie wollen dort kämpfen und ihr Leben opfern. Wenn man diese Menschen über eine bestimmte Zeit begleitet hat, dann geht das gerade als Pädagoge schwer in den Kopf. Da stellt man sich natürlich Fragen, was hätte ich anderes machen können? Hätte ich andere Schwerpunkte setzen müssen oder bei bestimmten Themen beharrlicher sein? Aber ich hatte zu den Personen ja auch keinen Kontakt mehr, weil sie das erst nach ihrer Schulzeit gemacht haben.
Vier ihrer Ex-Schüler sind mittlerweile wieder in Deutschland. Haben sie mit denen nach ihrer Rückkehr Kontakt gehabt?
Jetzt momentan nicht. Sie werden gerade resozialisiert . Aber ich hatte zwischenzeitlich Kontakt mit einigen von ihnen. Ich würde sie alle als desillusioniert beschreiben. Das sind keine glühenden Anhänger mehr der Ideologie oder des Islamischen Staates. Sie sagen, dass es ein schwerer Fehler war. Die waren auch sehr schnell wieder da - bereits nach einer Woche oder wenigen Tagen. Das beruhigt mich auch wieder und ich frage mich, ob ich vielleicht doch etwas richtig gemacht habe. Ich bin froh, dass sie wieder zurückgekehrt sind. Ich bin froh, dass sie nicht an Kriegshandlungen teilgenommen haben. Ich hoffe, dass sie davon auch berichten können. Das fehlt mir als Pädagogin nämlich etwas, jemanden zu finden, der ehrlich über die Motive und Beweggründe spricht.
Sie haben noch niemanden gefunden, der dazu bereit ist?
Nein. Ich bekomme ja viele Anfragen für Veranstaltungen und ich habe bis jetzt noch niemanden gefunden, der sich traut, das mit mir gemeinsam zu machen und einmal auch über die Ursachen spricht.
In der medialen Berichterstattung liegt der Fokus bei der Abstammung und Religion der Jugendlichen. Es gibt aber auch zahlreiche Konvertiten aus nichtmuslimischen Familien in Deutschland.
Die suchen im Endeffekt nach den gleichen Dingen. Auch diese jungen Menschen haben Identitätsprobleme und ihren Platz noch nicht gefunden, sonst würden sie nicht beim Radikalismus suchen. Das findet man im persönlichen Gespräch schnell raus, ob man einen gefährdeten Jugendlichen vor sich hat. Deshalb haben wir es im Kern ja auch nicht mit einem Mirgrantenproblem oder einem Problem der Muslime zu tun. Es ist unser aller Problem.
Im Feuilleton war zuletzt viel vom "Pop-Dschihadismus" die Rede. Es gilt als cool, sich den Salafisten anzuschließen. Was ist davon zu halten?
Natürlich gilt der Pop-Dschihad als cool, weil er eine Rebellion darstellt. Der ganze Salafismus in Deutschland ist eine Art Jugend- und Subkultur. Es wird gegen die eigene Familie rebelliert und gegen die Gesellschaft, die einen ablehnt. Der Salafismus bietet eine Plattform für diese Rebellion. Es wird eine gemeinsame Sprache gesprochen, ein Slang. Dann ist da die Kleidung, der Bart, alles starke Zeichen. Man bedient sich in der Hip Hop Kultur, allerdings mit arabischen Texten, aber auch deutschem Rap. Wieder geht es um Angebote, die man vorher nicht gefunden hat.
Wie passen diese Welten zusammen? Auf der einen Seite die Popkultur, westlich geprägt und freizügig. Auf der anderen diese archaische Welt und der strenge moralische Kodex des Fundamentalismus?
Diese Welt der unbegrenzten Möglichkeiten stellt viele Menschen vor Probleme. Viele Jungendliche sind überfordert und wenden sich scheinbar einfachen Antworten zu. Vor allem wenn man ihnen suggeriert, dass sie sich nicht mehr um einen Job bewerben müssen, dass sie keinen besonders guten Schulabschluss brauchen, um ein erfülltes Leben zu leben. Es wird ihnen ja eingehämmert, dass sie trotz Abitur und Studienabschluss in den Augen der deutschen Gesellschaft nichts wert seien, solange sie Muslime sind und dem nicht abschwören. "Da drüben in Syrien und dem Irak hingegen braucht ihr das alles nicht und findet dennoch Anerkennung". Das lockt sehr viele.
Sie engagieren auf mehreren Ebenen mit dieser Thematik. Hat das auch persönliche Folgen?
Für mich persönlich ist das natürlich alles nicht unproblematisch. Es ist ein komplexes Thema und ich vermeide zum Beispiel bewusst, Namen zu nennen. Mir geht’s ja um die Sache. Mir tut es bei jedem einzelnen jungen Menschen weh, wenn er oder sie verführt wird und geht. Ich habe selbst Kinder. Ich unterrichte Kinder. Und es gibt nichts Schlimmeres, wenn man Eltern ins Gesicht schaut, die ihre Kinder verloren haben. Das ist mein persönlicher Antrieb. Ich bin Islamwissenschaftlerin und Muslimin. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich weiß um diese Schwächen. Ich weiß, wie es ist, einerseits in einem sehr traditionellen Islamverständnis der Eltern aufzuwachsen, anderseits zur Moderne gehören zu wollen. Ich hab meine Antworten gefunden. Aber ich weiß, dass viele das eben nicht schaffen.
Und wie können Sie diesen Familien helfen?
Seelischen Beistand leisten und helfen sie aufzuklären: Wie funktionieren die Menschenfängermethoden und warum funktionieren sie so gut? Wie können wir durch Erziehung und Sozialisierung unserer Kinder dem ein Stück weit entgegenwirken? Geben wir ihnen doch mehr Liebe, Halt und Orientierung. Sagen wir ihnen: "Ihr seid nicht türkische oder arabische Muslime, ihr seid deutsche Muslime. Ihr habt hier einen Platz".