Erstellt am: 26. 5. 2015 - 18:53 Uhr
Im Kino gewesen
"Der Junge, den es nicht gab" heißt das neueste Prosa-Werk von Sigurjón Birgir Sigurðsson alias Sjón. Dass es sich bei dem vorliegenden Buch um Prosa handelt, ist deshalb erwähnenswert, da dieser Autor genauso in der Lyrik, im Theater oder auch bei Songtexten zu hause ist.
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Der Junge, den es nicht gab
Der Protagonist, der uns hier begegnet, ist Mánni Steinn - ein fünfzehnjähriges Waisenkind, das bei der Schwester seiner Urgroßmutter, einer schrulligen, kettenrauchenden und sehr alten Frau in einem kleinen Dachboden über dem Haus einer bürgerlichen Familie aufwächst. Doch zu Hause hält sich Mánni Steinn sowieso eher selten auf. Die ganze Stadt ist sein Wohnzimmer und er kennt jede Ecke, vor allem diejenigen, in denen er sich bei seinen "Kunden" ein paar Kronen verdienen kann.
Es ist das Jahr 1918 und Homosexualität ist damals auch noch im heute so aufgeschlossenen Island eine Sache, die nur in dunklen Hinterhöfen, kleinen Gassen und verwahrlosten Schuppen stattfindet. Mánni Steinn ist beliebt bei seinen "Kunden" und diese Beliebtheit finanziert ihm seine große Leidenschaft: das Kino. Doch 1918 ist nicht nur eine schwierige Zeit für Homosexuelle, sondern für ganz Island: der Ausbruch des Vulkans Katla verdunkelt das gesamte Land und die spanische Grippe wütet unbarmherzig über die kleine Insel und seine wenigen Bewohner_innen hinweg.
Es wird täglich stiller in den Kinosälen, seitdem die Influenza vor fünf Tagen den ersten Todesfall gefordert hat. Doch die Bürger von Reykjavík lassen sich nicht beirren und gehen tapfer weiterhin ins Kino. Besonders die jungen Leute begegnen ihrer Angst vor Ansteckung, indem sie umso enger zusammenrücken, während die Erwachsenen erst gar nicht vor die Haustür gehen. Außerdem ist es im Kino wärmer als in den meisten Wohnhäusern, Kohleknappheit und steigende Erdölpreise machen sich bemerkbar, und deshalb sind im ausverkauften Kinosaal die Plätze am begehrtesten, die möglichst weit vom Eingang liegen.
Jacob Ehrbahn
Der Junge, den es nicht nicht gab
Lange Zeit bleibt Mánni Steinn von der schrecklichen Krankheit verschont, doch langsam, ohne dass er - und vor allem: ohne dass wir, die Leser_innen - es sofort merken, werden seine Erlebnisse immer traumwandlerischer, immer surrealistischer, bis der arme Junge nur noch in Fieberträumen spricht. Dass uns das so spät auffällt, liegt daran, dass sich in Mánni Steinns Welt die Realität und die Filme, die er im Kino sieht, immer wieder miteinander vermischen. Die ausgestorbene Innenstadt von Reykjavík ist für ihn kein Zeichen der fortschreitenden Seuche, sondern eine perfekte Kulisse "für all die unheilvollen Vorgänge, die sich in Filmen gern an solchen Orten der Verdammnis zutragen."
Dafür ist Sjón bekannt: das Surreale zum Realen zu erheben, es nicht auszustellen, sondern es ganz bewusst einfließen zu lassen in seine Erzählungen. Das passiert über sorgfältig gesetzte Absätze und Satzzeichen, aber vor allem über die bedächtig gewählte Sprache, die selbst in der Übersetzung ihre Wirkung nicht verfehlt.
Auf dem Schemel am Bett der Alten flackert eine Kerze. Also ist sie wach.
Sie bemerkt ihn und setzt sich auf.
Der Junge bleibt wie erstarrt stehen.
Vor seinen Augen wird die alte Frau um etwa sechzig Jahre jünger. Der flackernde Kerzenschein macht ihre Gesichtszüge weich, von der rostbraunen Sturmhaube umrahmt wie von langem, offenen Haar.
Und auf einmal ähnelt sie einer Frau, die der Junge schon sehr lange nicht mehr gesehen hat, wird zum lebenden Abbild der Enkelin ihrer jüngsten Schwester.
Der Junge sinkt mit einem Seufzer zu Boden:
"Mama ..."
S. Fischer Verlag
Der Junge, den es gab
Sjón erzählt diese Geschichte zwar, aber er offeriert uns dabei nur ihre Möglichkeit. Zum Schluss ist man sich nicht sicher, ob es den Jungen Mánni Steinn - den liebevollen Kino-Nerd, den abgeklärten Stricher, den verliebten Teenager - in dieser Geschichte überhaupt gegeben hat, oder ob nicht doch ein schwarzer Schmetterling die Hauptfigur war.
Am Ende widmet Sjón das Buch dem Bruder seines Vaters, einem "Fischer, Trinker, Sozialisten, Bücherwurm und Schwulen" der in den Neunzigern an Aids gestorben ist. Und da, in diesen letzten Zeilen, begreift man plötzlich, dass man diesen Roman, von dem man dachte, dass man ihn soeben zu Ende gelesen hat, auf so vielseitige Weise immer wieder neu "lesen" könnte, dass man sich nur noch verneigen möchte, vor diesem großen Schriftsteller Sjón.