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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

20. 5. 2015 - 18:28

The daily Blumenau. Wednesday Edition, 20-05-15.

Von Viktor Orban lernen können. Wenn man ihn nicht nur als Troll sieht.

#machtpolitik #ideologiewandel #demokratiepolitik

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Also hat Viktor Orban wieder für Empörung gesorgt. "Die Zeit der liberalen Demokratien ist seit der Wirtschaftskrise 2008 vorbei" sagt er, in einer Rede vor dem EU-Parlament. Und: "Diese Strategie ist eigentlich gescheitert."

Weil er davor seinen Flirt mit dem Thema Todesstrafe wiederholt, geht dieser Spruch schlagzeilenmäßig unter. Und auch, weil der Sager nichts Neues ist. Den haben die Experten schon noch am Radar, seit er im Vorjahr erstmals in dieser Form geäußert wurde - und für dementsprechende Reaktionen gesorgt hat.

Was aber heißt das? In welchem Kontext hat der ungarische Ministerpräsident, Herrscher mit absoluter, verfassungsgebender Mehrheit das gesagt? Handelt es sich dabei um einen lässig hingerotzten rechtspopulistischen Spruch oder um das Resultat eines Denk-Modells? Hat Orban eine Vision der postdemokratischen Gesellschaft, die über die aktuelle ungarische Praxis (autokratische Zustände, gewürzt mit rechten Rülpsern, Zugeständnissen an Neo-Nazis, Repressionen gegenüber Regime-Gegnern, selbstherrlichem nationalistischen Gehabe und satter Korruption) hinausgeht?

Auf der Suche nach einem Video oder einem Transkript der dienstägigen Rede bin ich über das Quasi-Original gestolpert, die Rede auf einer Sommeruniversität in Rumänien am 26. Juli 2014, in der Orban seine Linie erläutert. Überraschenderweise ohne viel ideologischen Ballast, ohne Untergriffe und ohne allzu viel rechtsrechte Diktion. Sondern: intellektuell nachvollziehbar.

Orban anders zu lesen als als Troll, mag außerhalb der Rechtsaußen-Szene nicht schicklich sein - notwendig ist es aber wohl.

Nicht, dass sich nach der Lektüre dieser Rede und nach dem ansatzweisen Nachvollziehenkönnen der Denkungsart des neuen ungarischen Königs (die Leitlinie für den schrittweisen Umbau Ungarns ist) die Taten des Regimes rechtfertigen lassen. Aber als Basis fürs Verständnis dessen, was beim östlichen Nachbarn abgeht, ist die Beschäftigung mit diesen Ideen unabdingbar.

Der stringent formulierte Denkansatz zeigt zudem auch noch die Armseligkeit der heimischen und der meisten anderen europäischen Rechtspopulisten auf. Selbst Jörg Haider, den viele vor allem posthum als riesenhaftes politisches Talent verklären, wirkt im direkten Vergleich zu Orban wie eine Micky-Maus-Version eines Politikers (von Haiders Offsprings gar nicht erst zu reden). Rattenscharfe Instinkte, wie etwas anzusprechen ist, um Prozente zu gewinnen, können die Fähigkeit einer konkreten Perspektivgebung jenseits plumper Blut-und-Boden-Sprüche nicht ersetzen.

Und genau da hakt Orban ein. Seine (global ausgearbeitete) Kritik an den westlichen Demokratien ist in weitester Hinsicht nachvollziehbar. Er sieht die Wirtschaftskrise von 2008 als entscheidenden/definitiven Bruch an, als Systemwechsel, der zwar nicht abrupt, aber schleichend erfolgt ist. Er zitiert Silicon Valley-Größen, die vor den Gefahren einer zunehmend feudalistierten Gesellschaft warnen, die von den Regierenden im Stich gelassen wurde, weil sie sich nicht gegen globale Player und deren Interessen durchsetzen konnten; er spricht von einem Wirtschaftsmodell das aus der Mitte wachsen müsse, anstatt top-down auszubeuten. Und er spricht vom dringendsten Wettlauf: dem nach der Suche nach der Staatsform, die am geeignetsten sei "eine Nation erfolgreich zu machen". Wie es in diesen Tagen (und auch noch heute) Singapur, China, Indien, Russland oder die Türkei wären, allesamt nicht nur keine lupenreinen Demokratien, sondern Systeme am Rand zur Autokratie oder eh schon dreiste bis widerliche Diktaturen.

Dann kommen die Kernsätze:
"Wir mussten aussprechen, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss."
Zudem seien die liberalen Demokratien westlicher Prägung zunehmend außerstande ihre Wettbewerbsfähigkeit aufrecht zu erhalten, "vielmehr werden sie einen Rückschlag erleiden, wenn sie nicht zu grundlegenden Veränderungen fähig sind."

In den liberalen Demokratien würde das ideelle Verbot der Einschränkung der Freiheiten letztlich immer dem Recht des Stärkeren weichen: "In diesem Sinne ist also der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat. Er verneint nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie die Freiheit, macht aber diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern enthält einen von dieser abweichenden, eigenen, nationalen Denkansatz."

Die illiberale Demokratie ungarischer Prägung soll also den alten Nationalstaat forcieren, mittels gezielter Abschottung von den liberalen Demokratien mit all ihren Schwächen, mit expliziter Unabhängigkeit vom internationalen Finanzwesen, Betonung des Nationalvermögens etc.

Das alles ist - im Gegensatz zu dem, was sonst im Bezug auf ungarische Politik immer mitschwingt - keineswegs absurd oder komplett gaga, sondern als politische Linie nachvollziehbar. Natürlich nur, weil Orban in seiner Grundsatzrede auf den Rechtsaußen-Schnickschnack, mit dem er realpolitisch den Schrecken in seine absolute Herrschaft bringt, weglässt.

Klar, für eine Analyse der ungarischen Praxis kann man das nicht außer Acht lassen. Als Analyse dessen, was im globalen Politik-Business falsch läuft und was man als Alternative dagegensetzen kann, sind Orbans Thesen aber lehrreich. Nicht, um ihnen nachzugehen oder sie konkreter auszuarbeiten. Sondern um womöglich andere Zugänge, andere Möglichkeiten zu finden. Schließlich ist - das sagt Orban zumindest implizit auch - neben der Weiterentwicklung der Nationalstaats wohl auch die des Wohlfahrts-Staates möglich.

Jedenfalls ist die Kontextualisierung der Orban-Sprüche politisch deutlich gebotener als eilfertig-einfältige Reaktionen, die sein Troll-Potential in den Vordergrund stellen.