Erstellt am: 14. 5. 2015 - 09:07 Uhr
Hacker, Drachen, Neonghettos
![© Cliffhanger](../../v2static/storyimages/site/fm4/20150520/2-65_body_small.jpg)
Cliffhanger
Millionen Fans auf der Welt können nicht irren: "Shadowrun" ist für Auskenner ein Stichwort, das für glänzende Augen sorgt. Seit einem stolzen Vierteljahrhundert steht der Name für ein überaus populäres Pen-&-Paper-Rollenspielszenario, das J.R.R. Tolkien und William Gibson mit dem Geist Mike Hammers zusammenspannt. Mit "Shadowrun Chronicles: Boston Lockdown" hat nun das Wiener Games-Studio Cliffhanger einen Ausflug in diese berühmte Welt zwischen Cyberpunk und Fantasy unternommen, die im Verlauf der Jahre schon Schauplatz einiger Computerspiele war - zuletzt in Form des Rollenspiels "Shadowrun Returns" und seines (noch besser gelungenen) Nachfolgers "Dragonfall".
"Shadowrun Chronicles" entführt seine Spielerinnen und Spieler also wieder in die dystopisch-magische Zukunft, in der sich Megakonzerne, Unterweltsyndikate und Drachen die Welt aufgeteilt haben. Im düsteren Boston des Jahres 2076 kämpfen wir als freischaffende Söldner im Team mit anderen Runnern ums Überleben und Geld. Ob wir das zum Beispiel als technisch begabter Troll, Ork-Schamane, Elfen-Scharfschütze oder menschlicher Straßensamurai tun, bleibt uns selbst überlassen: In der umfangreichen Charaktererstellung lässt sich ein zum Szenario passender Runner zusammenstellen.
RPG? Coop action strategy!
"Shadowrun Chronicles" versucht den Spagat zwischen Rollenspiel und Rundenstrategie im Stil der "XCOM"-Reihe. Zwar gibt es einige traditionelle Rollenspielelemente, doch in den Missionen, die den Hauptteil des Spiels ausmachen, geht es im Team mit computergesteuerten oder echten Mitspielern eigentlich ausschließlich taktisch zur Sache: Zug um Zug bewegen wir uns von Deckung zu Deckung, liefern uns Gefechte mit den Computergegnern und nutzen Spezialfähigkeiten wie Magie oder Technik, um uns Vorteile zu verschaffen. Die zahlreichen Missionen sind zwar nicht besonders abwechslungsreich, bieten aber zum Teil schwierige Herausforderungen und vor allem mit menschlichen Mitspielern viel Möglichkeit für taktisches Teamwork - nicht umsonst beschreibt der Entwickler die Mischung als "coop action strategy game".
Man hat den Eindruck, dass aus "Shadowrun Chronicles" ursprünglich ein waschechtes MMO hätte werden sollen - tatsächlich ist im wechselhaften Verlauf der per Kickstarter finanzierten Entwicklung aus dieser ehrgeizigen Vision etwas anderes, ein wenig Bescheideneres geworden. Die erkennbare Ambition, mit dem erst vor wenigen Wochen umgetauften, zu Beginn noch "Shadowrun Online" genannten Projekt ein ganzes MMO im beliebten Universum zu stemmen, hat hie und da noch rudimentäre Spuren hinterlassen. Der Mini-Hub zur Missionsauswahl ist zum Beispiel so gesehen fast wehmütige Erinnerung daran, was hätte sein können - und vielleicht doch noch was wird: Nicht nur das "Chronicles" im Titel steht für das Versprechen, noch weitere Inhalte nachzuliefern.
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Cliffhanger
Solide Kost für Schattenläufer
Gemeinsam mit anderen Spielern sorgt "Boston Lockdown" aber auch jetzt schon durchaus für Spannung, weil - clevere Mitspieler vorausgesetzt - dann die unterschiedlichen Charaktere und Fähigkeiten besonders gut zusammenspielen. Als Einzelspieler sind die taktischen Wahlmöglichkeiten durch mäßig originelle NPC-Mitstreiter deutlich eingeschränkt - mit Serverproblemen, wie direkt nach Release, muss man sich mangels wirklichem Offline-Modus aber im schlimmsten Fall ebenso herumärgern.
"Shadowrun Chronicles: Boston Lockdown" ist für Windows, Mac und Linux erschienen.
Wer wie in anderen Rollenspielen eine frei begehbare Welt, viel Entscheidungsmöglichkeit und komplexe Story erwartet, wird enttäuscht werden; "Shadowrun Chronicles" wird zwar durch eine lineare Geschichte und die Möglichkeit zur Charakterentwicklung zusammengehalten, ist aber eigentlich ein solides Strategiespiel mit dem Fokus auf kurzen Kampfmissionen geworden; so gesehen bietet es eine tatsächlich originelle Mischung aus "richtigem" MMO und taktischen Koop-Partien.
Sein großer Pluspunkt ist zweifellos sein einzigartiges, weltberühmtes und immer noch originelles Szenario, das in seiner Mischung aus Cyberpunk und Fantasy auch hier für viel Atmosphäre sorgt. So stellt sich das berühmte Shadowrun-Feeling auch in Boston verlässlich ein - und motiviert trotz mancher Schwächen. Es ist zu hoffen, dass Cliffhanger seinem Versprechen, weiterhin am Feinschliff und zusätzlichem Content zu arbeiten, nachkommt. Die Fundamente für etwas Besonderes wären gelegt.