Erstellt am: 11. 5. 2015 - 12:23 Uhr
Zurück in die Zukünfte
Biennale auf FM4
Von 9. Mai bis 22. November
- Must See. Part 1: Bei einem Ausflug auf die Biennale in Venedig kann man was erleben. Zwischen Lifestyle-Event, schlechtem Schampus, Kunst, Arbeit, Geld und Revolte.
- Must See. Part 2: This is so Contemporary! Was man auf der Biennale nicht verpassen sollte und was man ruhig auslassen darf: Tanzende Bäume, Titten, Bananen, Bumerangs.
- Zurück in die Zukünfte: Die Hauptausstellung der Venedig-Biennale zeigt selbstbewusste Globalkunst im Zeichen der Gewalt der Verhältnisse.
- FM4 Im Sumpf: Thomas Edlinger über die Biennale für 7 Tage on Demand
The End. Am Weg zum Eingangsraum des zentralen Pavillons in Venedig grüßen Statuen mit abgeschlagenen Köpfen und deformierten Körpern, die auf die koloniale Verstrickung des britischen Empires in Indien anspielen. Vor dem Eingang hängen rabenschwarze Tücher. Tritt man ein, sieht man einen Raum befüllt mit Werken des italienischen Künstlers Fabio Mauri. Eine Leiterinstallation, die nach oben ins Nichts führt, eine freistehende Wand aus zusammen gepressten Koffern, die an das Trauma des Holocaust denken lässt. An der Wand hängen Bilder mit Schriftzügen, die verkünden: the End. Ein zunächst noch sehr europäisches Ende, ein Nachhall der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Im Nebenraum zeigt ein kurzer, immer noch aufwühlender Film von Christian Boltanski aus dem Jahr 1969, wie ein Mann Blut oder Blutähnliches kotzt und hustet. Der Mann ist am Ende. Wie kam es dazu?
Das Ende gibt den atmosphärischen der Auftakt zur zentralen Ausstellung in Venedig, die doch eigentlich von Zukünften handeln will. Von da an geht es zurück in die Zukunft und die Welt außerhalb von Europa. "All the World´s Futures" heißt die thematische Schau der diesjährigen Biennale. Die Zukünfte kommen im Zeichen der Entgrenzung der Globalkunst im Plural daher, die Vergangenheiten natürlich auch. Entworfen ist die Schau von Okwui Enwezor, geboren in Nigeria, universitär ausgebildet in den USA, weltmännischer Spezialist für afrikanische Kunst und Fragen des Postkolonialismus, Leiter der der documenta 2002 und seit 2010 Leiter des Haus der Kunst in München.
Thomas Edlinger
"All the World´s Futures" beginnt wuchtig mit bedrängenden Bildern der Gewalt. Bouquets aus schwarz eingefärbten Motorsägen kokettieren mit SM-Fetischismus, Entwürfe von Kampfhubschraubern zeichnen eine dystopische, comicinspirierte Science Fiction, Bilder vom Verschmelzen aufeinandertreffender Projektile aus sowjetischen und us-amerikanischen Maschinenpistolen verweisen auf die Verwandschaft von Krieg und Wissenschaft. Gleich daneben eine aufwühlende Videoinstallation von Chantal Akerman. Sie zeigt die Geschwindigkeit vorbeifahrender Kameras von leeren Wüstenbildern und den Sound des sich globalisierenden Krieges, dessen Protagonisten abwesend bleiben. Terror oder war on terror, wer weiß das schon?
Akermans Arbeit entscheidet die Frage nicht für uns. Sie heißt schlicht "Now" und erhebt eine Stimme im Parlament der Formen, wie Kurator Enwesor das Zusammentreffen der Werke hier nennt. Ich verstehe den Begriff so: Einerseits kann man den Parlamentarismus als Versuch der Aushandlung von Unterschieden und lokalen Interessen verstehen. In der Globalkunst gibt es keine dominante, westlich geprägte Moderne mehr, an der sich abgearbeitet werden muss. Zum anderen ist das auch ein klares Plädoyer für die ästhetische Transformation von Inhalten und Bezügen. Kunst hat hier nicht die Aufgabe, Wirklichkeit zu verdoppeln oder zu repräsentieren. Über die Formgebung erschließt sie vielmehr erst Bezüge zu Pluralität von Wirklichkeiten - oder eben Futures.
Thomas Edlinger
Auch wenn sich die Schwere des Materials im Durchgang nach und nach lichtet und auch zarte, leichte und spielerische Arbeiten zu ihrem Recht kommen: Es geht ernst zu in dieser - besonders im Arsenale extrem verdichteten und teilweise zu vollgepackten Ausstellung. Der Ernst zeigt sich in eindrücklichen Porträtserien müder U-Bahnpassanten genauso wie in Malereien über Totenschädel. Er radikalisiert sich manchmal sogar bis zur Trauerarbeit, zur Meditation über herumspukende Geister, die man entweder nicht los wird oder deren Hoffnungen nie realisiert wurden. Theaster Gates etwa wandelt eine aufgelassene Kirche in Chicago zum Schauplatz einer choreographierten Gospel-Noise-Soundart-Installation um. Kirchenbänke werden hoch gehoben und krachen auf den Boden: ruinöser Soul, den man sich auch im krisengeschüttelten Baltimore gut vorstellen könnte.
Thomas Edlinger
Die Gewalt und die Gewalt der Arbeit, das Kapital und der Tod, die Ökonomie und die Ökologie, oder konkreter: das Postapartheid-Südafrika und die Flüchtlingsproblematik in Syrien, der Klimawandel und die Last des Lebens in südkoreanischen Fabriken und postkolonialen Wüsten. "The End of Carrying All" heißt eine Videoinstallation von Wangechi Mutu, in der die Last am Kopf immer schwerer wird.
Thomas Edlinger
Fast überall, wo es knirscht, kommentiert mindestens ein Werk die Lage. Enwesor hat die Problemlagen der Welt sorgfältig sondiert. Doch das heißt nicht, dass die Ausstellung zum vielstimmigen Klagechor der viktimisierten Internationale gerinnt. Der Dokumentarismus des Elends, der lange zum guten Ton kritischer Großausstellungen gehört hatte, ist hier nicht zu finden.
Was aber ist das Gravitationszentrum der Ausstellung? Im Zentralpavillon wird es durch den Einbau einer Arena markiert. Eine Art Theater- und Performanceraum mit politischem Anspruch, in dem sich Stimmen im wörtlichen und metaphorischen Sinn treffen und austauschen. In Performances lesen da etwa Schauspieler aus dem Kapital von Karl Marx. Die komplizierten Texte wird so niemand wirklich verstehen, auf einem Screen laufen dazu noch Fußnoten zu Marx-Texten. Eisenstein träumte einst von der Verfilmung des Kapitals; das hier sieht so aus wie die postdramatische Theaterversion. Aber vielleicht erinnern sich die Älteren daran, dass die Marx-Lektüre einmal zum guten Ton in den WG´s gehört hat. Ob uns das Kapital als Sprechtheater die heutige Welt erklärt wie ein heiliger Text, den man nur rezitieren, aber nicht reflektieren muss?
Thomas Edlinger
Der Wechsel von Erinnerungen und Entdeckungen akzentuiert den Parcour, Vertrautes lauert im Unvertrauten. Infografiken auf Teppichen führen ins Nichts der Statistik, Kleiderentwürfe für Demos schlagen die Brücke zum Aktivismus. Oft sind es weniger Einzelwerke, sondern ganze Werkgruppen, die Rhythmen setzen und Bezüge schaffen. Fast am Ende des langen Parcours im Arsenale, der, trotz der Futures im Titel der Ausstellung, fast schon demonstrativ Fragen der digitalen Konnektivität im Sinn der Netz- oder der sogenannten Postinternetkunst vernachlässigt, lauert noch eine Überraschung: Georg Baselitz mit - schon wieder - einer Serie seines überlebensgroßen, auf den Kopf gestellten Porträts. Ausgerechnet der hier? Und was macht der neue alte Meister neben einem Raum, der den Repräsentationen eines heutigen Afrikas ohne innere Grenzen gewidmet ist?
Doch plötzlich macht der deutsche Großkünstler in der mit vielen Porträtabwandlungen gespickten Bilderwelt der Globalkunst einen Sinn, der ihm selbst wohl nicht in den Sinn gekommen wäre. Im Licht der einst dunklen Kontinente erscheint seine Malerei wie Kunst, die man - nach ihrem Ende - vom Kopf auf die Füße stellen muss.
Zum anderen hat auch diese Stimme nur eine Stimme im Parlament der Formen, wie es Enwesor vorschwebt. Doch wird dieses Parlament, diese dauerüberforderte Demokratie in progress jemals beschlussfähig werden? Enwesor hat zwar einmal Politik studiert, doch dazu fällt ihm auch keine Lösung ein. Und vielleicht kann es auch keine geben.