Erstellt am: 11. 5. 2015 - 16:44 Uhr
Biennale in Venedig: Must See. Or not. Part 2
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Von 9. Mai bis 22. November findet die 56. Biennale in Venedig statt.
Am 14. Mai gibt es in der FM4 Homebase eine Spezialstunde zur Biennale in Venedig zu hören. Ab 21 Uhr und im Anschluss für 7 Tage on Demand.
Jetzt treffe ich schon die dritte Person, die immer noch ganz begeistert von Tino Sehgals Biennale-Performance von 2005 ist. Was hat er getan? Lapidar gesagt, die Kunst-Gesellschaft ein bisschen aufs Korn genommen. In seinem sonst leeren, deutschen Pavillon standen Museumswärter herum, die bei Eintritt der Besucher lustig zu klatschen und zu tanzen begonnen haben. Sie haben ständig nur den einen Satz gesungen: "Oh! This is so contemporary, contemporary, contemporary!" Meine Kolleginnen und ich können uns nicht zurückhalten, bei jeder zweiten Arbeit rutscht uns der Satz als Running Gag heraus. Wenn (Kunst-) Journalisten Witze machen.
Da steht ein Baum auf dem Flur
Wir wandern zum französischen Pavillon. Davor stehen zwei riesige entwurzelte Nadelbäume in einem Erdpropfen, als hätte man vergessen, sie vor der Eröffnung einzupflanzen. Aber huh? Auf einmal schweben die tonnenschweren Bäume wie von Geisterhand Richtung Pavillon, in dem noch ein Baum drinnen steht, der auf Rollen durch den Raum schlafwandelt. Diese schleichenden Bäume darf das vom Vortag völlig verkaterte Kunstpublikum stundenlang beobachten, von einer Soft-Beton-Bank aus.
Alexandra Augustin/ FM4
Bumerang werfen im Namen der Kunst
Biennale auf FM4
Von 9. Mai bis 22. November
- Must See. Part 1: Bei einem Ausflug auf die Biennale in Venedig kann man was erleben. Zwischen Lifestyle-Event, schlechtem Schampus, Kunst, Arbeit, Geld und Revolte.
- Must See. Part 2: This is so Contemporary! Was man auf der Biennale nicht verpassen sollte und was man ruhig auslassen darf: Tanzende Bäume, Titten, Bananen, Bumerangs.
- Zurück in die Zukünfte: Die Hauptausstellung der Venedig-Biennale zeigt selbstbewusste Globalkunst im Zeichen der Gewalt der Verhältnisse.
- FM4 Im Sumpf: Thomas Edlinger über die Biennale für 7 Tage on Demand
Ein Blick auf den deutschen Pavillon gegenüber: Da steht ein Mann auf dem Dach und wirft einen Bumerang! Es ist Kunst. Hier ist sie also, die geheimnisvolle Performance, die wir gestern nicht gefunden haben.
Dort am Dach hat sich der Berliner Künstler Olaf Nicolai eine Open Air-Fabrik für den Bau von Bumerangs eingerichtet. Zutritt verboten. Nur ab und zu sieht man ihn einen Bumerang durch die Luft werfen, rüber zu den Franzosen mit ihren tanzenden Bäumen. Das wird er für die Dauer der Biennale jeden Tag tun. Olaf Nicolai ist auf der Suche nach der perfekten Flugkurve für seine selbstgeschnitzten Bumerangs und so manches Wurfholz wird ganz sicher irgendwo im Garten landen. Die darf man behalten. Weitere Bumerangs hat er wie Ostereier in Souvenirläden in Venedig versteckt und an Straßenhändler verteilt. Acht Euro kostet einer. Schattenökonomie am Dach der Deutschen. Hab ich es schon erwähnt? This is so contemporary.
Olaf Nicolai: GIRO, 2015, VG Bildkunst
Wir mischen uns wieder unter die tausenden Künstler und Journalisten. Noch schnell ein Gratis-Espresso, um den sich alle prügeln. Dann ereilt uns die gute Nachricht: Der Nordische Pavillon hat Nachschub an Stoffsäcken bekommen, die waren gestern aus.
Der britische Pavillon: Kiss With A Fist
Bei einer Eröffnung Prosecco und Lachsbrötchen zu kredenzen mag ja ganz nett sein. Doch Sarah Lucas, die in diesem Jahr mit ihrer Schau "I SCREAM DADDIO" den britischen Pavillon bespielt, hält nichts von netten Gesten: Sie hat ihren Pavillon bis unter die Decke mit Genitalien gefüllt und zur Eröffnung eine Band eingeladen, die auf der Treppe ein Schlagzeug und einen Verstärker aufgebaut haben. Dazu servieren die Frauen von "100% Beefcock and the Tits Burster" lauten Punkrock und ein Faustbussi.
Alexandra Augustin/ FM4
Die jungen Zaungäste im Publikum erfreuen sich am widerständigen und feministischen Potenzial der Performance, die reichen Schnösel erleben mal wieder einen subversiven Moment (theoretisch zumindest) und dürfen sich auch einmal im Staub wälzen (gedanklich zumindest) und die älteren Semester halten sich präventiv die Ohren zu.
Sarah Lucas
Beefcocks und Titten passen jedenfalls wunderbar zu den Objekten, die Sarah Lucas zeigt. Die auf Pressebildern stets rauchende und/oder Bananen essende Künstlerin der Young British Artists-Riege hat Skulpturen gegossen, die Geschlechtsteile von Menschen darstellen, in denen Zigaretten drin stecken. Manchmal reiten diese Objekte auch auf Rohren, manchmal lungern sie auf Kühltruhen und Kloschüsseln herum.
Alle Wände sind bananengelb ausgemalt und die Schau wirkt überraschend sauber. Man möchte fast "schön" sagen! Zum Glück hängt an einer Wand das Bild eines ziemlich kaputten Menschen in einem Hasenkostüm, sonst müsste man Sarah Lucas unterstellen, dass sich ihr räudiges Potenzial über die Jahre abgeschliffen hätte. Trotzdem: Die Skulptur "Gold Cup Maradona" im Eingang ist nach der Biennale sicher einige hundertausende Euro Wert. Take the money and run.
Der Nordische Pavillon: Teuflische Sounds
"You cannot go inside! The crown prinzess is in there", werde ich laut ermahnt. Kein Zutritt zum nordischen Pavillon für mich. Mette-Marit ist gerade auf Besuch und hat eine Privataudienz bei der Künstlerin Camille Norment, die in diesem Jahr den Pavillon gestaltet. Aus dem Pavillon hört man hohe Töne, so als würde jemand mit dem feuchten Finger auf Weingläsern herumwischen. Nur lauter. Mette-Marit muss weiter, ich mache noch schnell ein Paparazzi-Foto und darf zum Interview.
Im Inneren des Pavillons befinden sich die Soundinstallation "Rapture": Lautsprecher hängen im Raum, zerbrochene Scheiben liegen am Boden und es ertönt die ganze Zeit ungewohnt hohe Musik. Camille Norment hat sie mit einer sogenannten Glass Armonica erzeugt: Ein Instrument aus dem 18. Jahrhundert, das Benjamin Franklin erfunden hat und das auch von Mozart und Marie Antoinette gespielt worden ist. Dem Instrument wurden heilende Kräft nachgesagt, später wurde es verboten, da es angeblich Wahnsinn und Extase bei Frauen hervorrufen konnte.
Marta Buso
Camille Norment hat dieses Instrument nach alten Plänen nachbauen lassen und gelernt es zu spielen. Ein Instrument nicht von dieser Welt, aus Glas und Wasser gemacht. In ihrer Soundinstallation geht es Camille Norment um die Ängste, die mit Musik verbunden werden, als auch um den Missbrauch von Sound. Im Interview sprechen wir über Machtausübung über Musik bis hin zu Pussy Riot.
"Sound überwindet alle Grenzen. Immer wieder wurde in der Geschichte mit gewissen Tönen Ängste assoziiert und behauptet, dass gewisse Sounds schädliche Effekte auf den menschlichen Geist und Körper haben. Immer noch versuchen Menschen auf dieser Welt Musik zu kontrollieren oder zu verbieten. Sound wird oft dazu eingesetzt, den menschlichen Körper zu bestrafen, man denke etwa an akustische Folter und Bestrafungsrituale in Gefängnissen."
Joan Jonas und Geister im US-amerikanischen Pavillon
Sie gilt als Pionierin der Video- und Performancekunst und ist vielen jungen Künstlerinnen ein Vorbild und Mentorin im Geiste: Joan Jonas ist eine beeindruckende Frau. Ihre Videoarbeiten der 1970er Jahre haben mich als Studentin sehr beeindruckt, etwa "Left Side Right Side" von 1972. Optische Spielereien mit dem damals neuen Medium Video, Erkundungen des eigenen Spiegel- und Selbstbildes mit der Videokamera. Sagen wir, sie ist die Ur-Mutter des Selfies.
Alexandra Augustin/ FM4
Joan Jonas gestaltet heuer die Schau "They Come to us without a Word": Die Fragilität der Natur ist das Thema der traumsequenzhaften Videoinstallation, die sich durch alle Räume zieht. Der isländische Autor Halldór Laxness und seine Texte über die Natur haben die Künstlerin inspiriert. Die Videocollagen sind alle in Cape Breton, Nova Scotia, entstanden, einer einsamen Insel im Nordatlantik.
Kinder, Fische, Bienen und Pferde verschwimmen auf der Leinwand, dazu sind Geistergeschichten zu hören, die seit Jahrzehnten in oraler Erzähltradition in Cape Breton weitergeben worden sind. Joan Jonas erzählt:
"People there still believe in ghosts. Ghosts are very much alive there, as in all parts of the world. We are haunted, the rooms are haunted."
Das wirkt auf manche niedlich, ist aber genau die richtige Gegenposition in einer schnellebigen Welt, vor allem in einer Biennale-Welt, in der alle von Pavillon zu Pavillon hetzen. Die Gelassenheit von Joan Jonas im Gespräch ist eine Freude. Nein, sie muss sich hier nichts beweisen. Außerdem: Wer zu schnell läuft aus Angst etwas zu verpassen, der verpasst vielleicht das allerwichtigste und schönste: Jeden einzelnen Moment, im hier und jetzt.