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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

9. 5. 2015 - 10:16

Neuköllner Maientage

Am schönsten Volksfest Berlins ist das gentrifizierte, amerikanisierte, cupkaceifizierte veganisierte Neukölln ganz weit weg.

Die Neuköllner Maientage sind wahrscheinlich das schönste, am lieblichsten gelegene Volksfest in ganz Berlin. Bäume und Büsche sind zart ergrünt, die Kastanienbäume blühen, die hügelige Landschaft lädt zum Verweilen ein. Der Flieder duftet, Verkehrslärm und Gestank sind weit weg, denn die Neuköllner Maientage finden alljährlich im Volkspark Hasenheide statt, und die Hasenheide ist ein 50 Hektar großer Park im Ortsteil Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg.

Leuchtschrift Neuköllner Maientage

Christiane Rösinger

Der Name des Parks geht auf die Nutzung des Geländes als Hasengehege ab 1678 zurück, als der Große Kurfürst hier zur Jagd ging. 1811 eröffnete Friedrich Ludwig Jahn, auch als Turnvater Jahn bekannt, hier den ersten Turnplatz in Preußen.

Aber natürlich ist die Hasenheide auch ein Problempark, denn auch hier kann man seit über 30 Jahren Cannabis erstehen – und in der Polizeistatistik gehört der liebliche Park mit Freiluftkino, Minigolfanlage, Hundewiese und Krishna Tempel auch zu den „gefährlichen Orten“ Berlins.

Die Neuköllner Maientage feiert man schon zum 50. Mal, zum Jubiläum gibt es eine Festschrift und eine Briefmarke. Willy Brandt, als Berliner Bürgermeister, war mal hier, Box-Legende Max Schmeling und viele andere.

Die Stimmung auf dem beliebten Rummel hängt natürlich vom Wetter ab, regnet es, dann drehen die Fahrgeschäfte unbemannt ihre melancholischen Runden, dann kokeln die verschmähten „Halb-Meter-Bratwürste" auf dem Rost vor sich hin.

Am Mittwoch aber war schönes Wetter und Familientag, das heißt „Alle Fahrgeschäfte halber Preis“. Und da strömte es aus allen Himmelsrichtungen mit Kind und Kegel zum Eingang.

Frauen mit Kopftuch vor einem Fahrgeschäft

Christiane Rösinger

Wer von dem affektierten, verhipsterten Treiben in Kreuzberg und Neukölln genug hat, für den ist ein Ausflug auf den Neuköllner Rummel eine wahre Erholung: Keine trendy People, keine Hipster, keine Expats! Denn Expats meint ja wohl nur die gutsituierten Zugezogenen aus Nordamerika oder Nordeuropa, die anderen heißen ja Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlinge.

Neukölln, hat 340 000 Einwohner und ist ein Einwanderungsbezirk. Die meisten Einwanderer kommen aus der Türkei, dann aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, aus der ehemaligen Sowjetunion, aus den arabischen und afrikanischen Staaten und dem Libanon . Als drittgrößte Gruppe wird in der Neuköllner Bevölkerungsstatistik die Gruppe der "Ungeklärten" mit aufgeführt. Dies sind größenteils Palästinenser oder Kurden, die aufgrund der politischen Verhältnisse aus dem Libanon oder angrenzenden Staaten nach Deutschland gekommen sind, entweder keine Staatsangehörigkeit besitzen oder diese nicht angeben, weil die Staatsangehörigkeit nicht mit der nationalen Identität übereinstimmt.

Frauen mit Kopftuch vor einem Fahrgeschäft

Christiane Rösinger

Neuköllns Bevölkerung setzt sich aus 163 verschiedene Nationalitäten zusammen, 22% sind ohne deutsche Staatsbürgerschaft, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wird auf 40% geschätzt.

Die Neuköllner Maientage ziehen alle an, so viele verschiedene Nationalitäten sieht man sonst nirgendwo in Berlin. Türkische und arabische Familien mit Zwillingskinderwagen und Opa im Rollstuhl, indische Frauen im Sari, Romafamilien aus Bulgarien und Rumänien, afrikanische Teenager, und natürlich die Neuköllner Ur- Berliner.

Vegetarisch sind hier grad mal noch so die Pommes, der Maiskolben und das ganze klebrige Süßzeug. Veganes und Glutenfreies sucht man vergebens. Das ist durchaus bemerkenswert, weil sich die Gentrifizierung einer Gegend inzwischen leicht an der Eröffnung von veganer Gastronomie messen lässt. Ist in die letzte Säuferkneipe ein veganes Cafè eingezogen, ist die Gegend verloren. So sieht es inzwischen in einigen Teilen Neuköllns aus.

Aber hier auf den Neuköllner Maientagen ist das gentrifizierte, amerikanisierte, cupkaceifizierte veganisierte Neukölln ganz weit weg. Hier trotten die Ponys traurig im Kreis, hier kann man mit Fußbällen auf Blechdosen schießen, hässliche Kuscheltiere angeln, schrillen Kirmestechno hören, sich den Magen mit klebrig-kandierten Äpfeln , Zuckerwatte und Lebkuchenherzen verderben. Man kann mit Gewehren schießen und halblebensgroße Plüschtiger gewinnen. Vom 42 Meter hohen Riesenlooping hört man die Angstschreie der Jugendlichen, dieses Jahr gibt es kein Riesenrad, aber eine Rutsche vom Oktoberfest und gleich zwei Geisterbahnen.

Brunnen mit rotem Wasser

Christiane Rösinger

Hot-Spot bei den Kita-Kindern - Der Blutbrunnen

Am Familientag ist das Publikum sehr jung, die älteren so ab 13 gehen lieber abends. Die Stimmung ist gut im Gedränge, eine Attraktion ist der Blutbrunnen vor der Geisterbahn. Hier stehen die Kinder im Kita-Alter, die noch nicht mit fahren dürfen, in dichten Trauben und beobachten den sprechenden Hexenkopf und halten die Hände andächtig in das blutige Wasser - vielleicht weil die Farbe eher so Richtung Rosa geht. Denn Rosa ist modisch betrachtet der Renner auf den Maientagen - die Pinkstinks-Bewegung ist hier noch nicht angekommen. Die Mädchengruppen verschwimmen zu einer einzigen rosa Masse. Erst so Richtung Teenageralter, ab 10-12 wird Rosa bereits mir Schwarz kombiniert.

Teenager in rosa-schwarzen Outfits

Christiane Rösinger