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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

8. 5. 2015 - 06:00

Die Welt begann zu Wanken

Wie mein Vater das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte. Ein Interview.

Chronik der Gemeinde Buchkirchen bei Wels

Mein Vater war kein Held, kein Mörder, kein Widerstandskämpfer, kein Nazi. Mein Vater war ein Kind. Geboren 1937 in einem kleinen Ort unweit von Wels in Oberösterreich kannte er bis zum Kriegsende nichts anderes als die Naziherrschaft. Kurz vor seinem Tod vor zehn Jahren bat er mich um ein Lebensgespräch, wie er es nannte. Ich sollte es aufzeichnen. Er willigte in eine Veröffentlichung ein, "falls es irgendeinen Nutzen hat".

Papa

Christian Lehner

Mein Vater ca. 1940

Ich habe mir die sechsstündige Unterhaltung gut gemerkt, die Bänder aber seither nicht mehr gesichtet. So blieb zwischen uns etwas unerledigt und ich hatte einen guten Grund, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit meinem Vater "ins Gespräch" zu kommen.

Am vergangenen Sonntag war es so weit. Viele der Berichte über das Gedenkjahr 1945 erinnerten mich an Vaters Erzählungen über seine Kindheit. Und so kramte ich die Mini-Discs aus dem Archiv hervor und begann sie zu sichten. Es war nicht immer einfach, nach all den Jahren die Stimme des Alten zu hören. Er litt schon merklich an seiner Krebserkrankung und wir mussten viele Pausen einlegen. Aber ich war auch froh, ihm wieder etwas nahe sein zu können, obwohl das, was er speziell über seine Kindheit zu sagen hatte, alles andere als herzerwärmend war. Dabei hatte er im Gegensatz zu Millionen anderer Kinder noch Glück. Er lebte am Land und wurde nicht von den Nazis verfolgt.

Ich denke, dass diese aus dem Oberösterreichischen "übersetzten" und editierten Gesprächsauszüge über das Persönliche hinaus interessant sind, und möchte sie deshalb mit euch teilen.

Was sind deine ersten Kindheitserinnungen?

Als ich drei oder vier Jahre alt war, wurde ich schwer krank. Ich hatte mir Diphtherie eingefangen. Meine Mutter sprühte unser Haus mit Lysol aus, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Ins Krankenhaus nach Wels konnte ich ja nicht, weil dort die Verwundeten von den Bombenangriffen lagen.

Wie war eure Familiensituation?

Die Familie war erzkatholisch. Der Vater, ein Tischler, war in der Zwischenkriegszeit bei der Heimwehr, kein Nazi, deshalb wurde er bei Kriegsausbruch sofort eingezogen. Die Onkeln waren auch an der Front. Der eine schlief bei der Wache ein und wurde zum Tode verurteilt. Stattdessen steckten sie ihn aber in ein Strafbataillon, wo er auch gleich in der Nähe von Warschau gefallen ist. Der andere Onkel geriet in russische Kriegsgefangenschaft und musste sechs Jahre in Sibirien in einem Motorenwerk arbeiten. Als er zurückkam, wog er 45 Kilo und seine Frau war mit einem anderen durchgebrannt. Mein Vater war Sanitätsfahrer. Zuerst in Frankreich, dann an der Ostfront in der Ukraine und auf der Krim. Er war den ganzen Krieg über im Einsatz. Am Ende geriet er in Rosenheim in Gefangenschaft, war aber zwei Wochen nach der Kapitulation wieder daheim. Wir Kinder waren die meiste Zeit allein mit der Mutter und einigen Verwandten.

Ab 1941 flogen die Alliierten im Großraum Linz / Steyr / Wels / Vöcklabruck regelmäßig schwere Bombenangriffe. Dein Heimatort Buchkirchen liegt nur einige Kilometer nördlich von Wels. Wie habt ihr euch verhalten?

Im Radio ertönte ein Warnsignal, das sich wie eine Kuckucksuhr anhörte. Da begannen wir uns zu fürchten. Dann plärrten die Sirenen und schon sah man die ersten Verbände daherziehen. Ich erinnere mich noch an den Luftschutzbeauftragten, der uns mit schnarrender Stimme in den Keller nötigte, obwohl das Gemäuer nicht als Bunker taugte. Die Frauen mussten einen gepackten Koffer mitnehmen. Dann kamen die Einschläge und alles erzitterte. Die Welt begann zu wanken.

Wie war das für dich als Kind?

Wir hatten natürlich Angst, aber ich war auch furchtbar neugierig. Einmal bin ich ausgebüchst und beobachtete den Angriff. Die Bomberformationen sahen aus wie aneinandergereihte Dreiecke. Dann sah man weiße Pilze im Himmel auftauchen und man hörte ein Tackern. Das war die Flak. Ich sah, wie ein Bomber getroffen wurde. Der zog eine schwarze Rauchwolke hinter sich her und surrte ganz langsam nach unten. Gelegentlich tauchten deutsche Jäger auf. Aber nur sehr wenige. Am Himmel schillerten sogenannte Christbäume. Das waren Signalbomben mit Silberstreifen dran, die die Abwehr irritieren sollten, wie man uns später erzählte. Das war sehr schaurig. Dann hörte man die ersten Detonationen und die Erde begann zu beben.

Und dann?

Als der Angriff vorbei war, habe ich Bombenaufhängungen gefunden. Die haben die Amis ebenfalls abgeworfen. Ich brachte sie zum Dorfschmied. Der war unabkömmlich. So bezeichnete man jene Männer, die nicht an die Front mussten. Der Schmied hat aus dem Gestänge Schnitzwerkzeug gemacht und ich hab mich gefreut.

Die Bomben verfehlten manchmal die Ziele und schlugen auch in den Dörfern rund um Wels ein. Hat es jemanden in der Familie getroffen?

Meine Großeltern lebten im nahen Marchtrenk. Sie besaßen ein kleines Bauernsacherl von 13 Joch. Dort schlugen drei Blindgänger ein. Einer ist in den Heustadl gesaust, ein anderer in den Stall, wo die Bombe eine Kuh erschlagen hat. Sonst blieb alles heil.

Wie war für euch das Kriegsende?

Die letzten Wochen waren besonders schlimm. Wels wurde fast täglich bombardiert und da war ja auch der fürchterliche Angriff auf Attnang-Pucheim. Jeden Tag kamen die Pferdefuhrwerke mit verwundeten Zivilisten ins Dorf. Die Verletzten wurden in einem Gasthaus versorgt. Die Kolonnen sind gegen Schluss immer länger geworden. Dann kamen die deutschen Flüchtlingsströme aus dem Osten. Wir haben sie "Banatler" genannt. Die Menschen kamen mit Pferdefuhrwerken, wo sie ihr ganzes Hab und Gut geladen hatten. Es waren Planenwagen, so wie man das von den Siedlern in den USA kennt. Das ging schon zwei Jahre vor Kriegsende los. Die Flüchtlinge wurden in der Volksschule einquartiert und wir hatten ein Jahr schulfrei. Es waren auch viele französische Kriegsgefangene im Ort, die bei den Bauern Landarbeit verrichten mussten.

Wie hast du als Kind über den Nationalsozialismus gedacht?

Der Hitler hat mir noch überhaupt nichts gesagt. In Buchkirchen führt eine lange Stiege zur Volksschule. Da sind links die Buben und rechts die Mädchen gestanden und mussten "Heil Hitler!" rufen. Ich fand das lustig und hab immer wieder "Drei Liter!" geschrien. Dann zuckte ich aber doch zusammen und hoffte, dass das niemand gehört hat.

Das heißt, du hast das durchaus als Bedrohung empfungen?

Der Schuldirektor war ein glühender Nationalsozialist. Jeden Sonntag nach der Kirche hat er eine Rede geschwungen. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er herumgehüpft ist und wie er herumgefuchtelt hat. Das war halt sehr autoritär alles. Der Schuldirektor hatte einen Sohn. Als der fiel, war es vorbei mit den Reden. Da sind dann auch viele umgeschwenkt, wenn es sie selbst betroffen hat. Die Nazis mussten ja alle erst sehr spät einrücken. Auch die galten lange Zeit als in der Heimat unabkömmlich.

Wie habt ihr das Kriegsende erlebt?

Das einschneidende Erlebnis für mich war der allerletzte Bombenangriff, weil sich meine Mutter weigerte, in den Keller zu gehen. Sie hat einfach dagesessen und gebetet, während das Geschirr in den Regalen tanzte.

Deine ersten Erinnerungen an die amerikanischen Besatzungssoldaten?

Das war tatäschlich so, wie man sich das eh überall erzählt. Als wir hörten, dass die Amerikaner da sind, sind wir zu den Panzern gelaufen und haben unser Satzerl aufgesagt. Das haben wir vorher auswendig gelernt: "Please, give me German-Kau". An Kaugummi kann ich mich jetzt aber nicht mehr erinnern, aber sehr wohl an Schokolade. Vor den schwarzen Soldaten haben wir uns sehr gefürchtet. Wir kannten das ja nicht. In der Schule war dann einmal ein General mit seinem Sohn im Englischunterricht. Der war aus Texas, glaube ich, und sprach tatsächlich so, als hätte er den Mund voller "German-Kau". Von den Amis sind wir in der Schule entlaust worden. Wir mussten uns nackert ausziehen und wurden mit DDT-Pulver eingesprüht. Wir waren weiß wie die Bäcker! Damals wusste man noch nicht, dass das Pulver höchst gesundheitsschädigend ist.

Man sprach von Glück, wenn man in der amerikanischen Besatzungszone lebte. War das ein gutes Verhältnis?

Sie waren auf alle Fälle sehr freundlich zu uns Kindern. Aber wir hatten trotzdem Angst. Es hieß, dass jeder verhaftet wird, der ohne Begleitung unterwegs ist. Wir streunten trotzdem durch die Gegend. Immer barfuß. Kurz vor Wels waren auf einem Feld unzählige Fahr- und Flugzeuge der Wehrmacht abgestellt. Und das noch Jahre später. Ich erinnere mich auch noch gut an den amerikanischen Supermarkt in Wels. Da kamen die Soldaten mit vollen Einkaufssäcken raus. Sie hatten oft heimische Mädchen dabei. Rote Stöckelschuhe, roter Lippenstift, enge Röcke. Für uns war das eine Sensation. Bei uns gab’s das vorher nicht. Viele Frauen gingen mit den Soldaten in die USA.

War die Not groß bei euch?

Meine Eltern hatten noch vor dem Krieg eine kleine Tischlerei gegründet und waren eher arm. Ich wusste gar nicht, wie sie durchgekommen sind. Natürlich ging es uns am Land vergleichsweise gut. Die Mutter hat nach Kriegsende Hühner gezüchtet. Wir hatten sogar ein Schwein - allerdings kein Futter. So rückten wir zum "Notzupfen" aus - stehlen will ich nicht sagen - und besorgten auf den Feldern Ähren. Von den Bauern war ja nichts zu erwarten. Nicht alle, aber viele haben sich an der Not bereichert. Die ausgebombten Städter gaben oft ihren letzten Schmuck für einen Laib Brot.