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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

6. 5. 2015 - 18:54

Spielen mit den Schmuddelkindern

Außenseitertum, Kleinkriminalität und Kunstsinngikeit: Antonia Baums sehr guter Roman "Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren".

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Den sperrigen Titel ihres kürzlich erschienenen, zweiten Romans hat Antonia Baum - in adaptierter Version - einem Raptrack entlehnt: "Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren" nennt sich das Buch der deutschen Journalistin und Autorin. Im Stück "Rain" der Berliner HipHop-Crew Masters of Rap lautet die Zeile so: "Ich wuchs auf einem Autofriedhof auf, wo ich begann, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren."

HipHop ist eines der großen Themen der vornehmlich für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung tätigen Baum. Beispielsweise widmete sie Ende November 2014 eine vielbeachtete Geschichte dem damals neuen Album von Haftbefehl - einer der interessantesten Texte zum Thema, in dem sich - dank Finesse der Autorin - die Grenzen zwischen den Systemen Hochkultur und Gossenpoesie wieder einmal durchlässig zeigten.

Antonia Baum

Mathias Bothor

Antonia Baums neuer Roman ist jetzt ebenfalls eine Verschraubung von Milieus, in der der steife Wind der Straße und das harte Leben keine geringen Rollen spielen. "Ich wuchs..." ist eine Familiengeschichte übers Draußenstehen und Dagegensein: Die Zwillinge Romy und Clint und der ältere Bruder Johnny werden ohne Mutter von ihrem Vater groß gezogen - einem Jongleur der Lebensumstände, einem recht unzuverlässigen Luftikus und Verweigerer der Zwänge, dem Vereine, die Kirche, Verbote und Schilder zuwider sind: "Theodor ist unser Vater. Er behauptet von sich, er habe sich selbst erzogen, also ohne dass ihm dabei jemand geholfen hätte."

Die drei Kinder nennen ihren Vater nicht "Papa", sondern Theodor. So eine Familie ist das. Die Familie fährt in einem Leichenwagen durch die Gegend, Vater Theodor trägt eine Augenklappe, weil er nur noch ein Auge hat bzw. trägt er sie eben oft auch nicht. Wie er sein Auge verloren hat, wissen die Kinder nicht. Das mit der Erziehung nimmt Theodor also nicht so genau, er liebt die Kinder zwar, so gut er es halt versteht, kümmert sich aber kaum. Offiziell ist er Arzt, in erster Linie aber Lebenskünstler, Künstler, Kleinganove, Autoschrauber.

Auf zwei Zeitebenen blickt Erzählerin Romy auf ein verwahrlostes Leben, einmal als 9-Jährige, einmal in der Erzählgegenwart, in der sich die Geschwister wiedertreffen, als 25-Jährige, in abwechselnden Kapiteln.
"Ich hasste den Schrottplatz, weil sich da noch mehr Scheiße stapelte als bei uns zu hause. Da gab es nichts, was schön war. Nur Dreck und kaputte Sachen, und alles war eckig und ohne Ordnung. "

Obwohl prinzipiell genügend Geld zu Verfügung zu stehen scheint, haust die Familie unter unwirtlichen Verhältnissen: Theodor ist vom Sparen und Billig-Leben besessen, er ist chaotisch, er würde sagen "anarchistisch", egoistisch. Gegessen wird aus der Dose, ab und zu gibt's mal einen Burger, in die Schule müssen die Kinder mit uralten und verdreckten Klamotten.

Roman

Hoffmann und Campe

"Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren" von Antonia Baum ist bei Hoffmann und Campe erschienen.

Antonia Baum erzählt diese Geschichten zwischen Jugendamt und Ladendiebstahl, zwischen den kleinkriminellen Abenteuern des Vaters, zwischen Wettbüro, Drogen und Vereinsamung mit einem flauschigen, pippi-langstrumpfhaften Charme. Kokett und altklug begreift Romy die Welt. Ziemlich traurig ist das alles also - und sehr lustig. Auf dem Schulhof gelten Romy, Clint und Johnny zwar als Outcasts und Asoziale, können sich dabei aber immer wieder auch als die emotionalen Sieger fühlen, die sich nicht von den Normen verbiegen lassen müssen und zuhause schon im Kindesalter über Kunst und eventuell bessere Lebensmodelle diskutieren können, dürfen, müssen.

Hier mischen sich der ewige Wunsch, anders, speziell und einzigartig zu sein, mit der Sehnsucht nach Geborgenheit und Halt ganz wunderlich, giftig und die Brust wärmend zugleich. Antonia Baum gelingt dieses Geflecht der Töne ganz großartig: Flapsigkeit und Kunstspinner-Getue im Überlegenheitsmodus, der Duft von prekärem Leben und "Unterschicht", Dandyhaftes und Streetslang, bleierne Melancholie und ein rasantes Reizen von Popkutur-Referenzen - eine Welt entsteht, die es so nicht gibt.

Dafür haben wir ja die Kunst und zum Glück dieses Buch, in dem hundert feine Sätze und Formulierungen funkeln: So sei Bruder Johnny beispielweise beim Autofahren "wie Patrick Bateman beim Ficken". Die Familie ist ein kompliziertes System, das Leben auch, der Roman "Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren" tut nicht so, als hätte er die Lösung.