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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

6. 5. 2015 - 19:13

"Rettet unseren Speck!"

Die Hintergründe der irrwitzig tendenziösen Exzesse der britischen Tagespresse am Tag vor der Unterhauswahl.

Disclaimer: Ich weiß, andere Blogs (Huffpost etc.) haben heute schon dieselbe Story geschrieben, weil sie unausweichlich ansteht. Ich hab diese Blogs alle nicht gelesen, nicht aus irgendeinem schlauen Grund, sondern weil ich mit meinem eigenen hier endlich fertig werden will.

Harte Recherche war das heute morgen. Ein Spaziergang zum örtlichen Kleinsupermarkt. Auf dem Zeitungsständer dort lässt sich nämlich bequem auf einen Blick ablesen, was man über das größte Problem am derzeitigen politischen Alltag Großbritanniens wissen muss.

Betrachten wir aber zunächst einmal die Symptome, sprich die heutigen Titelseiten der Tagespresse:

Titelblatt The Sun: Save Our Bacon, Miliband isst Sandwich.

Robert Rotifer

The Sun:

"Das ist das Schweinsohr (geflügeltes Wort, meint 'die Sauwirtschaft'), das Ed aus einem hilflosen Sandwich machte. In 48 Stunden könnte er aus Britannien dasselbe machen. RETTET UNSEREN SPECK (geflügeltes Wort, 'to save one's bacon' heißt 'jemand in der Not retten')

Fotos und Videos von Ed Miliband (hey, unerwünschtes, brunzdummes Autocorrect: Wenn du mir NOCH EINMAL "MILZBRAND" aus ihm machst!) beim Verzehr eines Speck-Sandwich geistern nun schon seit einem Jahr (!) als bevorzugtes Meuchelmotiv durch den Boulevard. Eine Konsequenz davon war unter anderem, dass David Cameron neulich zur Vermeidung dieser Falle vor Fotografen ein Hot Dog mit Messer und Gabel verspeiste.

Ich bestehe ja darauf: Das ständige Herausstreichen, dass Miliband nicht gut Schweinefleisch essen kann, ist unterschwellig antisemitisch gefärbt, aber es gibt einige Leute, die halten das für paranoid. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich darüber hier sowieso schon vor Ewigkeiten einmal was geschrieben hab, so alt ist dieser Hut, aber immer noch gut genug für ein Titelbild in der Sun. Allerdings: Wenn das das beste Argument ist, dass ihnen einfällt, um ihre proletarische Leser_innenschaft für die Tories zu gewinnen…

Titelseite Daily Express: Why you must vote UKIP

Robert Rotifer

Daily Express

"Warum Sie UKIP wählen müssen - sagt Nigel Farage"

(Nein, Autocorrect, nicht 'Frage' sondern 'Farage'!!!) Hier hält man sich erst gar nicht mit Subtilitäten auf. Richard Desmond, der als Porno-Verleger steinreich gewordene Eigentümer des Daily Express hat UKIP eine Million Pfund gespendet und macht seine Zeitung zur plumpsten Wahlpostille diesseits von Nordkorea.

Interessant dabei, dass aber selbst diese supersimple Überschrift mit dem Zusatz "says Nigel Farage" sprachlich noch total holprig rüberkommt. Warum nicht "erklärt Ihnen hier Nigel Farage"? Oder "weiß nur Nigel Farage"? Oder "Weil Nigel Farage das sagt, und wenn der das sagt, dann ist es so, also hören Sie auf mit den dummen Fragen" (jetzt ja, Autocorrect)?

Daily Telegraph Titelseite: Nightmare on Downing Street

Robert Rotifer

Daily Telegraph:

"Mörderische Träume"

Ich übersetze das so, weil dies der deutsche Titel des Films "A Nightmare on Elm Street" war, auf den sich der Telegraph in seinem Titel bezieht. Popkulturelle Referenzen sind ja sonst nicht so das Revier dieser Zeitung, die soliden Old School-Konservatismus repräsentiert. Ein Bild von Freddie Krueger auf dem Titel des Telegraph würde gleich seine halbe Zielgruppe ins Grab bringen, daher hier stattdessen SNP-Chefin Nicola Sturgeon, die neben Schulkindern aus dem Fenster eines Spielhauses mit der Türnummer 10 winkt (Symbolischer Subtext: So als wäre es die Downing Street Nummer 10, wo der/die Premierminister_in nach der gewonnenen Wahl einzieht).

Gemeint ist die von den Tories heraufbeschworene Schreckensvision, wonach Labour mit Hilfe der schottischen Nationalisten eine Regierungskoalition bilden und die SNP dann die britische Union von oben her spalten könnte.

Ich hab neulich hier über das gefährlich destruktive Potenzial dieser antischottischen konservativen Angst-Strategie und auch der von Labour verfolgten Abgrenzungstaktik geschrieben (die noch dazu offensichtlich nichts nützt, weil die konservative Presse sie einfach ignoriert).

Tatsache ist, dass Sturgeon selbst als kleiner Koalitionspartner von Labour (der sie nicht sein wird), selbstverständlich nicht in die Downing Street einziehen würde. Aber solang's ins Konzept passt…

Daily Mail Titelseite: Don't let a class war zealot and the SNP destroy our economy

Robert Rotifer

Daily Mail:

"Dem gesunden Menschenverstand zuliebe: Lasst nicht einen fanatischen Klassenkämpfer und die SNP unsere Wirtschaft - und unsere Nation an sich - zerstören.

Wie Sie taktisch wählen können, um den roten Ed aufzuhalten"
(bzw. von der Downing Street fern zu halten)

Unter allen konservativen Kampfblättern ist die Daily Mail, die man beim Anflug von der British Airways gratis in die Hand gedrückt kriegt, damit man gleich weiß, woran man im Vereinten Königreich ist, von jeher das allerhärteste.

Dass die Mail den biederen Sozialdemokraten Miliband beharrlich als gefährlichen Linksradikalen charakterisiert, ist kaum was Neues, die Verleumdung seines verstorbenen Vaters im Oktober '13 sowieso unübertrefflich, und die SNP wird da schnell einmal zur Verschwörung mit dazu gezählt. Sind schließlich auch andere, nicht so wie wir, die Schott_innen.

Mail-Kolumne: Trust Labour? I'd rather trust Jimmy Savile to babysit

twitter/twildon

Bemerkenswert übrigens, dass die andere Titelschlagzeile über skandalös lange Wartezeiten beim praktischen Arzt sich eigentlich eher in Richtung der Labour-Wahl-Agenda neigt, die die konservativen (Privatisierungs-)Reformen des Gesundheitssystems kritisiert.

Aber in der blinden Rage kann man solche Ironien schon schnell einmal übersehen, und milder würde ich den Gemütszustand innerhalb einer Redaktion nicht umschreiben, die gestern erst aus der Kolumne ihres Hardliners Richard Littlejohn folgenden Satz fettgedruckt und eine halbe Seite füllend hervorhob:

"Labour vertrauen? Ich würde eher Jimmy Savile als Babysitter vertrauen."

Zur Information: Nach aktuellen Schätzungen geht die Zahl der Opfer des 2011 verstorbenen Top of the Pops-Moderators und pädophilen Vergewaltigers Jimmy Savile in die vielen Hunderte, wenn nicht gar Tausende.

Sie durften sich nun alle noch einmal von der Daily Mail für eine flotte Vorwahl-Pointe verbal missbrauchen lassen.

Aber weiter in der Presseschau: Die Times hab ich hier weggelassen, weil das im Vergleich fast schon ein langweiliger Titel war:

"PM: Miliband trying to con way into Number 10"

"Premierminster: Miliband versucht sich in die Downing Street Nummer zehn hinein zu schwindeln"

Nur scheinbar langweilig allerdings, da geht es nämlich darum, den Koalitionsverhandlungen für die Woche nach der Wahl vorzugreifen und ein Klima zu schaffen, in dem der zweitgrößten Fraktion (falls diese Labour sein sollte) das moralische Regierungsrecht abgesprochen wird.

Davon werden wir vielleicht ab Freitag noch mehr zu hören kriegen.

So.
Der Fairness halber müssen die Ausnahmen im flächendeckenden Labour-Bashing hier wohl schon auch vorkommen, allen voran der Labour-loyale Daily Mirror (es gab wohl noch andere: Daily Star und Daily Sport hatten Frauenhintern auf der Titelseite und werden hier übergangen. Den kommunistischen Morning Star und die Financial Times verkauft mein Supermarkt nicht, hab ich also nicht gesehen. Letztere sprach sich aber vorige Woche in einem Leitartikel von Jonathan Ford, einem alten Freund David Camerons aus Zeiten des Bullingdon Club, dezidiert für die Konservativen aus).

Mirror-Titel: Major Fail

Robert Rotifer

Daily Mirror:

"Major Fail - das verheerende Urteil des Ex-Premierministers"

Der Mirror enthüllt, dass der konservative Ex-Premier John Major die sozialen Missstände in Großbritannien anklagt.

Guter Versuch, das muss man aber schon auch im Zusammenhang damit sehen, dass Major selbst gerade erst vor einem Labour/SNP-Pakt gewarnt hat, der "Britannien auseinander reißen" würde.

Den Punkt sollte man dann schon auch berichten oder die ein bisschen mühselig so hingedrehte "Enthüllung" besser doch bleiben lassen.

Independent Titelseite: Post-election shambles looms as legitimacy crisis worsens

Robert Rotifer

The Independent:

"Durcheinander nach den Wahlen droht, während die Legitimitätskrise sich verschlimmert"

Das ist nicht ohne Grund so wischiwaschi. Der Independent hat schließlich das große Problem, dass er schon lange nicht mehr ist, was sein Titel verspricht, gehört er doch seit einer Weile schon dem exilrussischen Oligarchen Alexander Lebedev, einem "Non-Dom", also einem Günstling jener einzigartigen britischen Sonderprivilegien für Steuerausländer_innen, die Labour abschaffen will.

Vorgestern bekannte sich der Independent also auch zu den Tories, gänzlich gegen die sonstige linksliberale Blattlinie, aber in Einklang mit Lebedevs anderer Tageszeitung, dem in meinem Nicht-Londoner Exil unerhältlichen, als Hofzeitung des Londoner Bürgermeisters Boris Johnson agierenden Evening Standard.

Für die Glaubwürdigkeit des Independent bei seinem schwindenden Publikum ist dieser peinliche, offensichtlich vom Chef verordnete Kurswechsel zwar gar nicht gut, aber Lebedev hat andere Prioritäten. Und Boris ist ja schon lange auf Lauerstellung.

A propos:

Boris Johnson am Guardian-Cover

Robert Rotifer

The Guardian:

Am Zeitungsstand nicht zu sehen: Auf der unteren Hälfte dieses Titelblatts, also unterhalb des Fotos von Boris Johnson mit fliegendem Haar steht die Überschrift:

"Revealed: Hit list of welfare cuts facing next chancellor"

"Enthüllt: Trefferliste der Sozialkürzungen, die dem nächsten Schatzkanzler bevorstehen"

Eigentlich ziemlich neutral für eine Zeitung, die entschieden Labour unterstützt. Und die Idee, Johnson aufs Cover zu hieven (Meuchelfoto ist das ja keins, nur eben ungekämmt, wie er sich ohnehin gern selber darstellt), lässt sich höchstens als Versuch werten, ein bisschen in die Einheit der Konservativen hinein zu stören.

Die werden sich aber vom Guardian nicht sonderlich viel erzählen lassen.

Und überhaupt möchte man dem Guardian gern mitteilen, dass Ed Miliband ja noch nicht verloren hat. Erstaunlich eigentlich, bei dem öffentlich Gegenwind.

Aber noch einmal kurz zum ersten Absatz: Das vielleicht größte Problem des politischen Alltags in Großbritannien, und das fällt mir bei meiner nun schon fünften Wahl als Bewohner dieses Landes heuer noch wesentlich stärker auf als bisher, ist seine völlig verzerrte mediale Darstellung, prägend bedingt durch die louchen Figuren, denen die weitestverbreiteten Tageszeitungen gehören (Rupert Murdoch: Sun und Times, Lord Rothermere: Mail, Barclay Brothers: Telegraph, Richard Desmond: Express).

Wer aus solch tendenziösen Blättern seine Informationen bezieht, hat einfach keine geeignete Grundlage für die Ausübung seines/ihren Wahlrechts.

Und das ist für eine angeblich hoch entwickelte Demokratie wie Großbritannien eigentlich untragbar.