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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

4. 5. 2015 - 15:22

The daily Blumenau. Monday Edition, 04-05-15.

Baltimore, wie immer durch den The Wire-Filter gesehen.

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

#tvseries #warondrugs #policebrutality

1) wenn die Fiktion die Realität besser erklären kann

So richtig beendet ist die aktuelle Krise nicht. Zwar ist die Ausgangssperre aufgehoben und die politischen Reaktionen gehen - anders als in Ferguson - in Richtung Ermittlung: trotzdem kann es in Baltimore jederzeit wieder zu Unruhen kommen. Und das sieht man dann in dieser vom Elend verhärteten Ostküstenmetropole zwischen Philadelphia und Washington.

So weit, so schlecht.
Aber: warum beschäftigt mich (und viele andere, die noch nie einen Fuß in die rund um die einst so bedeutenden Hafen gruppierte Siedlung gesetzt haben) das Schicksal dieser zwanzigstgrößten US-amerikanischen Stadt? Es ist nicht so sehr die Erzählung des befreundeten Paares, das zufällig mitten hineingeraten ist in die erste Welle vor 14 Tagen und plastisch zu erzählen wusste.
Es ist The Wire, die dichteste TV-Erzählung die es seit Erfindung des Serien-Formats gibt. Über 5 seasons lang schilderte die HBO-Serie von Showrunner David Simon die Geschehnisse in einer Community, die von Armut, Rassismus, Polizeigewalt, absurder Drogenpolitik, dem Wegfall alter Industrien, einem maroden Schulsystem, korrupt-kurzsichtiger Politik und dem Niedergang des Medienwesens gezeichnet, den Weg in die Abwärtsspirale nimmt.

The Wire, nicht nur für mich die beste Serie aller Zeiten erledigt diese Beschreibung nicht nur künstlerisch hochwertig, episch ausgefuchst, sprachlich beeindruckend, visuell packend, den Einsatz von Musik genretechnisch revolutionierend, sondern schafft es auch Charaktere von Tolstoi'scher Tiefe und Woody-Allen'scher Leichtigkeit zu kreieren; Menschen zu zeichnen, die trotz ihres Kunstfigurendaseins auf reale Vorbilder referenzieren. Das klappt deshalb, weil Simon und seine Autoren die Stadt und ihre Menschen trotz aller Kritik und sezierender Analyse lieben; und auch den mordebefehlenden Kingpins oder den dreisten Prügel-Cops Menschlichkeit zugestehen.

Und genau wegen dieser Nähe am Objekt meint man, nach 5 Jahren The Wire (das genau nach 9/11 und der daraus resultierenden großen Umverteilung der Budgetmittel einsetzt und 2008 endet) Baltimore zu kennen. Nicht im John McCain'schen Sinn (siehe dazu das Ende dieser Geschichte), sondern auch und vor allem als pars pro toto, als Beispiel für die verfehlte US-Drogenpolitik.

Die Nähe manifestiert sich dann im ganz konkreten Freddy Gray-Fall an einem Zufall: die Bilder der angeklagten Cops, deren Reihe 1 praktisch exakt so aussieht wie Carver, Herc und Prez, drei der Loser-Cops aus der Polizei-Einheit, die The Wire fünf Jahre lang durch alle Tiefen und Untiefen begleitet.

Natürlich hat The Wire Baltimore nicht für alle Zeiten abgebildet; aber allein die Erklärung warum Stephanie Rawlings-Blake, die aktuelle Bürgermeisterin (Typus Michelle Obama) die Serie nicht gesehen hat spricht Bände: einer der vielen Charaktere basierte auf ihrem in der Zeit der Ausstrahlung an Krebs verstorbenem Vater, einem bedeutenden Lokalpolitiker in Maryland (dem Bundesstaat, in dem Baltimore liegt, Hauptstadt ist das kleine Annapolis).

Ihre Vorgänger wurden direkt portraitiert: Sheila Dixon, die sich hier wortreich von The Wire abgrenzt ist die überehrgeizige Nerese Campbell. Die echte Dixon wurde übrigens wegen betrügerischer Unterschlagung aus dem Amt gejagt.

Ihr Vorgänger, Martin J. O'Malley, der als Weißer zu einem Sensationssieg in einer mehrheitlich schwarzen Stadt kam, ist Tommy Carcetti - da hat Simon aus einem irisch- halt einen italienischstämmigen gemacht. Die Umstände seines Karrieresprungs werden aber präzise geschildert.

Sein Vorgänger, in The Wire Clarence Royce, war Kurt L. Schmoke, der es hier aktuell zwar ein wenig arg besser weiß, auf dessen gewagte Drogenpolitik-Ideen aber die Hamsterdam-Episode in Season 3 zurückgeht.

Und so ist es kein größeres Wunder, dass auch mitten in den Freddy-Gray-Unruhen die Analysen des David Simon treffender und zupackender sind als die der Offiziellen.

2) was der Umgang mit Analyse über Diskurs-Qualität sagt

Wie immer, wenn ich The Wire untertags in irgendeinem Kontext wiederbegegne, und ein paar Minuten Zeit habe, klicke ich ein paar Clips an, um eines der zentralen Elemente der Serie, ihre direkt zugreifende Dialogsprache, zu fühlen. Manchmal sind es die Prequels, meist ist es die Fuck-Szene mit Bunk und McNulty, hier als Drehbuch-Version. Diesmal ging es nicht zu Brother Mouzone oder Bubbles, zur finalen Medienniedergangs-Staffel rund um die Baltimore Sun oder zum Allertraurigsten was The Wire zu bieten hat, der season 4, die am Beispiel von vier Kids die Ausweglosigkeit eines kaputten Bildungssystems beschreibt, sondern zu einer anderen der vielen enigmatischen Charaktere, zu Russell "Stringer" Bell.

String, den Idris Elba mit einer Mischung aus Würde und Wut, Gelassenheit und Dringlichkeit darstellt, ist die Nummer 2 der führenden Dealer-Gang in West Baltimore. Und er nützt auch seinen Volkshochschulkurs in macroeconomics, um klassische Markt-Thesen höchst sachlich und praktisch umzusetzen und das Business zu optimieren. Das package als product, bei dem Verpackung mehr zählt als Inhalt.

Stringer ist Faust und Mephistoteles zugleich und scheitert letztlich an seinem Wunsch zu viel gleichzeitig zu wollen. Der old lion-young lion-Dialog mit seinem nachdrückenden, eminent gefährlichen Konkurrenten Marlo kündigt dieses Scheitern an.

Dann scrolle ich durch einen Zufall ins Youtube-Forum darunter. Nicht nur, dass das, was schon in den ersten paar Einträgen zu lesen ist, mehr Qualität aufweist als jegliche österreichische TV-Kritik oder das allermeiste der Serien-Berichterstattung - der Zugang der einzelnen Poster zeigt mir, was in einer diskursoffenen Gesellschaft möglich ist: dass nämlich normale User einen analytischen, fast schon wissenschaftlichen Zugang pflegen können, ohne deshalb ihre Alltagssprache verlassen zu müssen; weil der Distinktionsunterschied, der in Europa, und noch schlimmer in Österreich, die bildungsnahen von den bildungsfernen Schichten trennt, hier in deutlich geringerem Maße existiert.

Dass sich das gerade anlässlich eines The Wire-Clips zeigt, ist nur folgerichtig: Simon und seine Drehbuch-Autoren (allesamt Könner ihres Fachs) sind geradezu spezialisiert darauf komplexe Inhalte in straßengerechte Sprache und Sätze Hemingway'scher Prägung zu übersetzen.
Da lässt sich einwenden, dass derlei im Deutschen schon allein syntaktisch nicht funktionieren kann.
Eh. Auch.

Trotzdem sind sowohl Diskussions-Stil als auch -Level für hiesige Äquivalente außer Reichweite. Und das hat schon mit der grundsätzlichen Gedrungenheit des öffentlichen Diskurses zu tun, mit einem prinzipiellen Sich-Kleinermachen, um nicht den Unmut der a) Oberen bzw. Aufsichtsorgane und b) der selbsternannten Volkstribune, bei denen Nachdenken mit Schwäche und Töchterhymnensingerei gleichgesetzt wird, zu erregen. Wie hat es ein alter Biochemiker dieser Tage formuliert? "Ein Großteil der Bevölkerung kokettiert damit, nichts von Wissenschaft zu verstehen." Same for every other field of Expertise. Nix wissen und stolz drauf sein - diese Mischung finde ich schon jenseits der deutschen Grenze deutlich seltener. Vom offenen angloamerikanischen Umgang, wo die Suche nach dem neuen Ansatz immer Vorrang hat, gar nicht erst zu sprechen.

Mit Freddy Gray, dem das Verdachtsmoment "walking while black" zum Verhängnis wurde, hat all das nix mehr zu tun - aber so ist The Wire zu mir, auch Jahre nach seinem Ende: es führt mich immer an unerwartete Orte.