Erstellt am: 2. 5. 2015 - 17:27 Uhr
"Ein politischer Horrorfilm"
Wir haben Wahlen hier, in weniger als einer Woche. Der bisherige Wahlkampf war eine derart provinzielle Farce, dass ich ihn euch hier erspart habe, aber so geht’s nicht länger weiter, also springen wir einmal kopfüber in die Gülle der britischen Innenpolitik.
Was uns auch gleich zur unvermeidlichen UKIP-Geschichte bringt. Ignorieren ist unmöglich. Einige meiner Freund_innen wohnen schließlich drüben in Ramsgate, Wahlkreis Thanet South, nicht allzu weit von mir entfernt, wo UKIP-Chef Nigel Farage persönlich kandidiert.
Erst vor einer Woche war ich dort, um mir in der für diesen Zweck von der Labour Party angemieteten Methodistenkirche eine euphorische Brandrede von Owen Jones, dem Journalisten und Autor der Bestseller 'Chavs' und 'The Establishment' anzuhören.
Robert Rotifer
Der Saal bebte vor Energie und Enthusiasmus angesichts der Aussicht, dass ein junger Labour-Kandidat aus der Gegend hier vielleicht den Vormarsch der UKIP stoppen könnte, aber sobald ich wieder draußen im Abendlicht der trostlosen Fußgängerzone stand, war ich daran erinnert, dass Jones vor bereits Bekehrten gesprochen hatte.
Robert Rotifer
Die Woche davor hatte ich an der Strandpromenade ein paar Erstwähler_innen interviewt. Vier von fünf sagten, sie würden UKIP wählen, einer die Konservativen, weil jene seiner Meinung nach die einzigen wären, die Farage ausbremsen könnten. Alle waren sich einig, dass sie außerdem die Greens mochten, die aber nichts ausrichten könnten. „Eine verschwendete Stimme“, sagte der Konservative, und die UKIPper stimmten ihm bedauernd bei.
Das hat angesichts des Mehrheitswahlrechts in diesem Land zwar was für sich, zeigt aber, dass die Leute sich in ihrem diffusen Drang nach „was anderem“ nicht mit dem Studieren der Wahlprogramme aufhalten, hat das ziemlich linke Manifest der Green Party mit der Anti-Einwanderungs- und Anti-EU-Rhetorik von UKIP doch so gut wie gar nichts gemein.
Robert Rotifer
Ich hatte auch mit jener anderen, im Unterschied zu den EU-Migrant_innen wahlberechtigten Diaspora, und zwar den aus dem nicht mehr leistbaren London in Scharen nach Ramsgate gezogenen Künstler_innen und Musiker_innen gesprochen, die entweder Labour, die Greens oder die von Bez von den Happy Mondays erfundene Reality Party (kein Witz) wählen werden. Sie verkörpern die weltoffene, neue Bohéme in der Stadt, mit deren Einfluss UKIP sicher nicht gerechnet hat.
Das Mehrheitswahlrecht beißt hier in beide Richtungen. Wenn eine Fraktion wie UKIP in Ramsgate einmal eine kritische Größe erreicht hat, kann sie trotz mehr als zwei Dritteln Gegenstimmen immer noch gewinnen. Momentan sieht es so aus, als kämen Konservative, Labour und UKIP in Thanet South jeweils auf ungefähr dreißig Prozent.
Niemand, der hier gewinnt, wird auch nur annähernd einen breiten Wähler_innenkonsens vertreten. Am allerwenigsten Nigel Farage.
Robert Rotifer
Aber was aus ihm wird, sieht heute im nationalen Zusammenhang plötzlich gar nicht mehr so wichtig aus wie noch vor einer Woche angenommen. Der Großteil des Schadens, den UKIP im politischen Diskurs verursachen konnte, war bereits angerichtet, als die Labour Party jene berüchtigte Teetasse mit der Aufschrift „Control Immigration“ als dubiosen Fan-Artikel in ihren Online-Shop aufnahm.
Robert Rotifer
Der Mainstream ist von UKIPs Gedankengut saturiert, Farage sagt so wenig wie möglich von Substanz und hofft, dass sein potenzielles Publikum die anderswo adaptierte xenophobe Botschaft an der Quelle kauft. Indessen verblasst sein Stern zusehends am Medienhimmel.
Nach der Wahl wird seine Partei – siehe unten – zwar möglicherweise einen Pakt mit den Konservativen eingehen, zur Regierungskoalition wird das aber doch kaum reichen, und die Headlines am 8. Mai werden nicht Farage gehören, denn jetzt, bloß fünf Tage vor den Wahlen, scheint die UKIP-Front zum Nebenschauplatz verdammt.
Die wirklich große Umwälzung findet nämlich ein paar hundert Meilen weiter nördlich in Schottland statt.
Wie hier letztes Jahr zur Zeit der Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit vorausgesagt, konnte sich Labour nicht von seiner selbstmörderischen Strategie erholen.
Wir erinnern uns: die Scottish National Party SNP setzte als Mehrheitsfraktion im schottischen Regionalparlament erwähntes Referendum durch. Die schottische Labour Party trat naturgemäß gegen die Unabhängigkeit ein, schloss sich dabei aber loyal der Kampagne der konservativ-liberalen Regierung in Westminster an. Dieser spezifische Schulterschluss wurde ihr von einem erheblichen Teil ihrer traditionellen Wählerschaft als Verrat ausgelegt.
Der schottische Ex-Premier Gordon Brown wurde von seinem ehemaligen Schatzkanzler Alistair Darling aus dem politischen Ruhestand geholt, um mehr schottische Rechte in Westminster zu versprechen, die er bei David als Lohn für die Loyalität der Schott_innen ausverhandelt habe.
Als der konservative Premier Schottland schon am Tag nach dem Votum die kalte Schulter zeigte und als Vorbedingung für schottische Privilegien zuerst den Ausschluss schottischer Abgeordneter von spezifisch englischen Fragen in Westminster forderte, sah die Labour-Seite dieser vorübergehenden Zweckgemeinschaft ziemlich dumm aus der Wäsche.
Camerons Kaltschnäuzigkeit machte ihm in Schottland zwar keine Freund_innen, aber das nahm er locker in Kauf, hatten die Konservativen nördlich des Hadrianswalls doch schon lang nichts mehr zu holen gehabt.
Labour dagegen viel.
Wie sich im Nachhinein herausstellt, verlor Ed Miliband an jenem Morgen im September 2014 seine Chance auf eine klare Mehrheit im Unterhaus. In der jüngeren Vergangenheit pflegten auf regionaler Ebene nämlich selbst die von Labour zur SNP abgewanderten Stimmen auf nationaler Ebene zu Labour zurück zu wandern. Das ist nun offenbar vorbei.
Zwar stimmte nur eine Minderheit von 45% für die Unabhängigkeit, aber wenn man diesen Stimmenanteil als potenzielles SNP-Votum auf die Unterhauswahlen umlegt, reicht er in allen schottischen Wahlkreisen locker zum ersten Platz.
So wie es aussieht, könnte die Labour Party demnach ihre 41 historisch verwurzelten schottischen Sitze auf einen Schlag allesamt an die SNP verlieren. Wenn's hoch kommt, behält sie drei oder vier davon (politische Wunder in den nächsten fünf Tage ausgenommen).
Auch diese Aussichten sahen noch vor ein paar Wochen für Ed Miliband nicht ganz so schlimm aus.
Schließlich würde Labour nach der Wahl relativ leicht politischen Konsens mit der SNP finden, die unmöglich mit den Tories koalieren könnte. Labour vertritt zwar im Gegensatz zur SNP keine dezidierte Anti-Austeritäts-Agenda, will aber ins krachende öffentliche Gesundheitssystem investieren und zur Finanzierung dessen eine „Mansion Tax“, also eine Art Vermögenssteuer auf hochwertige Immobilien einführen und den Höchsteinkommensteuersatz wieder von 45 Prozent auf 50 Prozent erhöhen. Mit dem Ergebnis, dass ein um seine Millionen besorgter Promi wie Noel Gallagher gestern in einer TV-Talkshow Ed Miliband als „fucking communist“ bezeichnete.
Kaum hat man sich's versehen, artet selbst in einer geradezu besessen zentristischen Politiklandschaft wie der britischen der thematisch flachste Wahlkampf (brennende Themen wie etwa die explodierende Individualverschuldung kamen nicht einmal vor) in einen Ideologienstreit wie aus dem zwanzigsten Jahrhundert aus. Gefolgt von einem Nationalitätenstreit wie aus dem Neunzehnten:
Unter Anleitung des aus Australien importierten, berüchtigten Wahlkampfstrategen Lynton Crosby haben die Konservativen mit Hilfe ihrer vielen Freund_innen in der Presse die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Labour und den schottischen Nationalist_innen als ein existenzbedrohendes Desaster an die Wand gemalt.
Miliband werde seinem Land in den Rücken fallen (suggerierter Subtext: Ist es eigentlich sein Land? Ist er nicht selber ein Einwanderer, ein „hidden migrant“, wie der Express die Kinder von Einwander_innen nennt?) und die Union an den schottischen Separatismus verraten. Um Premier zu werden, behauptete Verteidigungsminister Michael Fallon, sei Miliband sogar bereit, die nukleare U-Boot-Flotte und damit die Sicherheit des ganzen Landes zu opfern.
Die SNP, so David Cameron, werde sich eine Labour-Administration „zur Geisel nehmen“ und „bei der ersten halben Chance, die sich bietet, den Union Jack zerreißen“. Über die vergangenen Wochen hinweg fand der Premierminister dafür immer schlimmere Worte, von der „ernstlich furchterregenden Aussicht“ über einen „politischen Horrorfilm“ bis zum „ultimativen Alptraum-Szenario“.
Nach mehr als drei Monaten der Streuung dieser Botschaft scheint sie beim englischen Wahlvolk angekommen zu sein, beflügelt noch vom wiederholten, nicht ganz ehrlichen Angebot der SNP-Chefin Nicola Sturgeon (Nachfolgerin des nach dem Referendum zurückgetretenen Alec Salmond) an Ed Miliband, mit ihrer Partei, den Grünen und den walisischen Nationalist_innen Plaid Cymru zusammen einen progressiven Block zu bilden.
Der Labour-Chef, motiviert einerseits von der Loyalität gegenüber seinen Genoss_innen in Schottland, andererseits vom Drang, die in England verbreiteten Horrorvisionen zu zerstreuen, übertrifft sich als Reaktion darauf fast schon täglich selbst in der Schärfe seiner Dementi und verschließt sich damit wertvolle Optionen für die Verhandlungsphase nach der Wahl. Selbst wenn das Labour die Regierung kosten würde, sagte er neulich in einer Frage- und Antwort-Runde vor TV-Publikum, würde er mit der SNP nicht einmal Gespräche führen, geschweige denn einen Pakt schließen.
Die Schott_innen, konterte Sturgeon, würden es Labour nie verzeihen, wenn Miliband nach den Wahlen einem Deal mit der SNP den Rücken zukehrt, statt Cameron von der Downing Street fern zu halten.
Wie sehr sich die taktischen Interessen der Tories in England derzeit mit denen ihrer erklärten Feinde von der SNP decken, zeigen die Wahlempfehlungen von Rupert Murdochs Revolverblatt The Sun am vergangenen Donnerstag.
Auf der Titelseite der englischen Ausgabe war ein gephotoshoppter David Cameron in der Rolle des (zu dieser Zeit noch nicht geborenen) königlichen Babys mit der Schlagzeile "It's a Tory!" abgebildet.
Die schottische Geschwisterausgabe, die Scottish Sun, gab dagegen am selben Tag mit einer Star Wars-Parodie am Cover (Nicola Sturgeon als Princess Leia) ihre Wahlempfehlung für die SNP ab.
The Sun
Die Chefredakteure beider Zeitungen begründeten diesen eklatanten Widerspruch als Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Aber sicher. Der Umstand, dass ihr Eigentümer erst im Februar von seinen britischen Zeitungen verlangte, eine Regierung Miliband um jeden Preis zu vereiteln, ist wohl völlig ohne Belang. Sowieso.
Der atemberaubende Zynismus der Konservativen könnte sich jedenfalls kurzfristig bezahlt machen. Aber was einen Nichtbriten schon überrascht, ist die völlige Bedenkenlosigkeit, mit der ein angeblicher Unionist wie Cameron am Klavier antischottischer Gefühle in England herumhämmert.
Nur fünf Jahre nach dem Abtritt einer Labour-Regierung mit einem schottischen Premier und einem schottischen Schatzkanzler werden wir es nach der Wahl am Donnerstag aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Unterhaus zu tun haben, dessen drittgrößte Fraktion, die SNP, Schottland als politisch isolierte Einheit vertritt.
Nicola Sturgeon wird diese Position weidlich nützen, um sich von der offensichtlichen englischen Verschwörung gegen Schottland abzusetzen. Genauso wie umgekehrt jene englischen Nationalist_innen innerhalb der Konservativen und bei UKIP, die schon lange einen Ausschluss der Schotten von „englischen Fragen“ im Parlament fordern.
Ein ideales Rezept für eine Verfassungskrise, schon überhaupt, falls die Konservativen im Amt bleiben und tatsächlich 2017 eine Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU abhalten. Sollte dank englischer Stimmen eine Mehrheit dafür zustande kommen, könnte das mehrheitlich pro-europäische Schottland und Wales beschließen, lieber in der EU als in Großbritannien zu bleiben.
Was genau passiert, werden wir jedenfalls diesmal – entgegen dem britischen Usus – am Tag nach der Wahl noch lange nicht wissen.
Die derzeitige konservativ-liberaldemokratische Koalition wird sich aber kaum ausgehen. Am Wahrscheinlichsten erscheint eine konservative Minderheitsregierung unter Cameron, unterstützt von UKIP und der rückständigen nordirisch-protestantischen Democratic Unionist Party, was allerdings selbst die kompromissbereitesten Liberaldemokrat_innen verscheuchen sollte.
Sollte Labour die stärkste Fraktion werden, geht sich ebenfalls nur eine Minderheitsregierung aus. Die Greens wären themenbezogen kooperationsbereit, die Liberaldemokraten und Plaid Cymru auch. Und Miliband wird die SNP sicher nicht daran hindern können, für seine Gesetzesvorschläge zu stimmen, ob er mit ihnen spricht oder nicht. Eine reife Demokratie sieht aber anders aus.
Ob Miliband oder Cameron, wer auch immer zweiter wird, verliert ziemlich sicher seinen Job, der Erste möglicherweise auch. Schließlich würden auf eine Minderheitsregierung wohl ziemlich bald Panik und dann Neuwahlen folgen. Bei den Tories scharrt schon Boris Johnson mit den Hufen, bei Labour droht mangels klarer Nachfolge ein längerer Kampf um die Parteiführung.
Großbritannien ist Koalitionen nicht gewohnt, der erste Wahlkampf, bei dem eine solche unübersehbar auf dem Programm steht, ist dementsprechend bizarr verlaufen. Der wirkliche Irrsinn kommt aber wohl erst nach der Wahl auf uns zu.