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Lukas Tagwerker

Beobachtungen beim Knüpfen des Teppichs, unter den ihr eure Ungereimtheiten kehrt.

2. 5. 2015 - 16:00

Kapitalismus auf der Anklagebank

Ab sofort sammelt das Kapitalismustribunal, das 2016 in Wien stattfinden wird, Anklagepunkte.

Als Zweitgeborener von vier Geschwistern erinnere ich mich an zwei Arten von frühen Gerechtigkeitserfahrungen.

Elternpartei X mahnte stets das Prinzip des Teilens ein.

Elternpartei Y sprach bei "Das ist aber ungereeecht!"-Klagegeschrei das stoische Urteil:

"Gerechtigkeit gibt es nicht. Das ist nur eine Erfindung des Menschen."

Wachstumskurven

Club of Rome

Naturrecht vs. Rechtspositivismus

Die Nürnberger Prozesse und deren 12 Nachfolgeprozesse einerseits, sowie die Russell-Tribunale andererseits sind dagegen Beispiele für vom Naturrecht inspirierte Verfahren, in denen nach Naturgesetzen einer vernünftigen Existenzordnung gesucht wurde.

Dass die gegenwärtige globale Art zu wirtschaften unsere Lebensgrundlagen zerstört, massenhaftes Elend und Krieg produziert, bezweifeln die wenigsten.

Wie wir aus einem Rechtssystem, das die systemischen Verursachungen des Unrechts schützt, herauskommen zu einer Situation, in der Recht und allgemeines Rechtsempfinden näher beieinander liegen, das ist das Rätsel, dem sich der Berliner Think Tank Haus Bartleby mit einer intellektuellen Anstrengung stellt:

Dem ersten europäischen Kapitalismustribunal.

Haus Bartleby Hinterzimmer

A Das Kapitalismus-Tribunal findet und erfindet in einem fairen Verfahren einen Umgang mit den Verbrechen des europäischen Kapitalismus.

B Anklageberechtigt ist jeder lebende Mensch auf dem Planeten.

C Angeklagt werden können alle juristischen Personen, Unternehmen, Konsortien, Konzerne, Institutionen, Staaten, Ereignisse und im Kapitalismus gültige Rechtsnormen. Natürliche Personen (einzelne Menschen) sollten nur dann angeklagt werden, wenn sie aus eigener Entscheidung Personen des öffentlichen Lebens in Europa sind.

(aus den Statuten des Kapitalismustribunals)

Auf der Seite kapitalismustribunal.org werden ab sofort bis Ende September Anklagepunkte gesammelt.

28 exemplarische Fälle sollen in der Tribunalwoche (aktuell geplant für Frühjahr 2016) in Wien zur Anklage gebracht werden. Im abschließenden Verfahren wird "der Kapitalismus" insgesamt vor Gericht stehen.

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Haus Bartleby

Das Team der Anklage

wird vom Zentrum für Karriereverweigerung Haus Bartleby in Unterstützung mit dem Club of Rome und dem Soziologen Hans-Peter Müller zusammengestellt. Der Klimaforscher Mojib Latif und die Autorin Naomi Klein werden anklagen. Ziegler und Žižek zählen zum weiteren Kreis.

Das Team der Verteidigung

wird von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, dem Trendbüro und dem Makrosoziologen Heinz Bude zusammengestellt, der zuletzt 150 Seiten über Angst und Statuspanik geschrieben hat.

Das Team der Richter

soll nicht Rechtssprechung sondern Verfahrensleitung inne haben. Der emeritierte Rechtshistoriker Uwe Wesel, der 1966-1967 am ersten Russell-Tribunal teilnahm, übernimmt die rechtstheoretische Supervision.

Die Grand Jury

wird die Aufgabe der Urteilsfindung übernehmen und Konsequenzen möglicher Schuldsprüche vorschlagen. Ihr wird der kritische Psychologe Morus Markard angehören.

Wo soll das Kapitalismustribunal tagen?

Robert Misik schlägt als Ort fürs Tribunal das Theater Werk X im Meidlinger Kabelwerk vor. Im Moment läuft hier gerade die vielbeachtete Proletenpassion 2015 ff.

Barbara Blaha schreibt: "Ich wähle die Wiener Börse als Symbol für den Finanzplatz Wien: Schließlich haben zwei Weltwirtschaftskrisen (1873 und 1928) hier ihren Ausgangspunkt - ein guter Ort um über den Kapitalismus zu Gericht zu sitzen."

Börse Wien

Gemeinfrei

Die Wiener Börse in einer historischen Aufnahme ziwschen 1910 und 1915.

Noch im Mai wollen die Tribunal-OrganisatorInnen nach Wien kommen, um diese und andere Räume auf ihre Tribunaltauglichkeit zu inspizieren.