Erstellt am: 29. 4. 2015 - 13:04 Uhr
Der Doktor
Ich glaube, ich kann seine Zigarette, die langsam im Aschenbrecher ausbrennt, hören. "Eine sehr schlechte Nachricht, mein Bruder!", wiederholt der Doktor. Er saugt durstig die letzte Lebenskraft aus der Zigarette. "Wir müssen das Herz austauschen!" Ich frage mich wie es dazu gekommen ist…
Anfangs war alles in Ordnung, dann fing es langsam an mit dem Gedächtnisverlust. Nicht die ganze Zeit, nur ab und zu, aber immer öfter. Adressen, Geburtstage und Telefonnummern gingen immer öfter verloren. Wir fanden heraus, dass es in der Sonne besser geht. Und wenn auch das nicht half, dann half manchmal kräftiges Schütteln. So ging es dahin, bis dann eines Tages alles komplett blockierte. Wir taten was wir konnten, ich schüttelte kräftig, aber es blieb still… das Lieblingstelefon meiner lieben M.
CC-BY-ND-2.0 / flickr.com/ninchenbln / Janine Pusa
Wir gingen zur offiziellen Servicestelle. Wir mussten einen Termin ausmachen, wie bei einem richtigen Arzt. Bei der offiziellen Servicestelle war alles perfekt sauber.
Die Mitarbeiter hatten T-Shirts mit dem Logo der Herstellerfirmen an. Sie fanden heraus, was das Problem war. Und dann sagten sie uns, dass dieses Telefon unreparierbar kaputt ist.
Sie boten uns ein neues Modell an, weil unseres schon so alt sei, dass es fast eine Schande wäre damit herumzulaufen. Dann kamen die Schreie von M., dass da wertvolle SMS drauf wären, wo sie mir ihre Liebe offenbart, sowie Fotos ihres alten Labradors Micki, der letztes Jahr mit 19 Jahre gestorben ist. "Wissen Sie wie es ist, wenn ein Hund 19 Jahre alt ist?", fragte M., aber die Mitarbeiter der offiziellen Servicestelle interessierten sich mehr für das Alter des Telefons als für das Alter des Labradors.
Wir waren verzweifelt. Bis uns Freunde vom Doktor erzählten.
Der Doktor kann Telefone heilen. Sein Kabinett ist ganz bei uns in der Nähe, im 12. Wiener Gemeindebezirk. Der Doktor stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er behandelt die Telefone wie lebendige Kreaturen, nennt ihre Displays „Augen“ und ihr Innenleben „Herzen“. Sein Geschäft ist klein, aber immer voll mit Menschen. Die meisten Besucher sind dabei gar keine Kunden, es ist nicht ganz klar, was sie dort machen. Sein Geschäft ist für viele einfach ein Ort zum Gedankenaustausch.
Als wir das Geschäft betreten, spricht ein älterer Mann in einer unbekannten Sprache in einer der Telefonzellen. Ich verstehe ihn nicht, aber er lächelt ständig und ab und zu wischt er seine Tränen mit seinem Ärmel ab. Irgendwas Gutes ist in seinem fernen Heimatland passiert. Zwei Jugendliche, gekleidet in Trikots von türkischen Fußballmannschaften, schauen sich Fotos auf Facebook an und lachen laut. Ein Mann, der aussieht wie der alte Charles Bukowski, trinkt Bier und sagt nichts. Was erwartet man aber auch sonst vom Bukowski?
Der Doktor steht über seinem Patienten – das Telefon von M., und schaut ihn mit großem Interesse an. Er ist ein dünner Mann mit silbernen Haaren und riesigen Schatten unter den Augen. „Wir müssen das Herz austauschen!“, sagt er wieder durch den Zähnen und ruft jemand an. „Meister, ich brauche neue Chips!“, sagt er. Anscheinend gibt es einen anderen Doktor, der ein noch größerer Spezialist ist. Das Gespräch hört sich tatsächlich an wie ein Gespräch zwischen Ärzten, die über eine Transplantation reden. Das Gesicht des Doktors erstrahlt und er hebt seinen Daumen in unserer Richtung.
Das Geschäft des Doktors ist eine Parallelwelt, ein anderes Wien, abseits von Schönbrunn und Stephansplatz. Ein kleines unsichtbares Wien. Die Österreicher wissen nichts von seiner Existenz und sogar falls sie davon erfahren würden, würden sie dieses Geschäft nie betreten. Die Regale darin sind voll mit Telefonen und Telefonteilen. Und in jedem dieser Teile steckt die Geschichte seines ehemaligen Besitzers, mit seinen Liebes-SMS und Fotos eines geliebten Hundes. Und der Doktor wird alles tun um diese Erinnerungen zu retten.