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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

2. 5. 2015 - 13:40

"Afghanistans verborgene Töchter"

Warum in Afghanistan manche Mädchen als Jungen aufwachsen, diesem Phänomen geht die Journalistin Jenny Nordberg in ihrem Buch "Afghanistans verborgene Töchter" nach.

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Afghanistan war bei uns in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit Kriegen und Konflikten in den Schlagzeilen: George W. Bush hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Zuge des War on Terrors Afghanistan und den Taliban den Krieg erklärt. Dieser Krieg hat im Endeffekt 13 Jahre gedauert und alleine die USA mehr als eine Billion (1000 Milliarden!) Dollar gekostet. Im Oktober 2014 sind die letzten britischen und amerikanischen Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Die aghanische Armee soll alleine die Taliban bekämpfen, die sind wieder auf dem Vormarsch, wie neueste Nachrichten zeigen.

Eine der Rechtfertigungen für den Amerikanischen Krieg gegen Afghanistan war neben der Demokratisierung des Landes auch die Befreiung der afghanischen Frauen, die unter den Taliban keinerlei Rechte hatten. Tausende von Dollars an Entwicklungshilfe wurden ins Land gepumpt. Und Journalistinnen werden geschickt, um den Fortschritt der Frauenbefreiung zu dokumentieren (und damit den Fortschritt im Land zu messen).

Jenny Nordberg

Magnus Forsberg

So auch Jenny Nordberg, die schwedische Investigativjournalistin war im Land, um unter anderem für einen Fernsehfilm über erfolgreiche afghanische Frauen zu recherchieren. Bei einem Interview mit der Parlamentsabgeordnete Azita weiht diese sie überraschend in ein Geheimnis ein, das sich im Familien-Album verbirgt:

Vier kleine Mädchen in cremefarbenen Kleidern, der Größe nach aufgestellt wie Orgelpfeifen. Die Kleinste hat eine Schleife im Haar. (…) Azita deutet mit dem Finger auf sie (…) „Du weißt, dass auch mein jüngstes Kind ein Mädchen ist, nicht wahr? Wir ziehen sie wie einen Jungen an.

Ebendiese Jüngste, Mahnoush, stürmt gerade unter dem Namen Mehran in Hosen und Jeanshemd durchs Zimmer und spielt Krieg mit kleinen Plastiksoldaten. Während ihre Schwestern die Tage drinnen verbringen und nur in männlicher Begleitung hinaus können, hat Mehran in ihrer Jungenkluft alle Freiheiten, die man sich vorstellen kann: Sie kann herumstreunen und Fahrradfahren, mit den Nachbarjungen Ball spielen.

"bacha posh" - "wie ein Junge gekleidet"

Afghanistan ist nicht das einzige Land, in dem es das Phänomen solcher als Jungen afuwachsender Mädchen gibt - auch im Iran und in Pakistan zum Beispiel kommt das vor. Und in Europa gibt es in Albanien mit den "Eingeschworenen Jungfrauen" ein ähnliches Phänomen. Der Film "Sworn Virgins" beschaäftigt sich damit.

Nordberg ist fasziniert von diesem Umgehen der rigiden Gendernormen in Afghanistan und fragt sich, ob es mehr solcher als Jungen verkleideter Mädchen gibt. Es gibt sie und sie haben sogar einen Namen: "bacha posh" - Dari für "wie ein Junge gekleidet".

Einen Sohn zu gebären ist für eine afghanische Frau - auch von der Gesellschaft vorgegeben - das oberste Lebensziel. Es herrscht auch die Meinung vor, dass eine Frau das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes einfach beschließt:

Infolgedessen kann eine Frau kaum auf Verständnis hoffen, wenn sie keine Söhne zu gebären vermag. Vielmehr wird sie sowohl von der Gesellschaft als auch von ihrem Mann bezichtigt werden, sich nicht fest genug einen Sohn gewünscht zu haben.

Will sich kein Sohn einstellen, geben manche Familien eben eine Tochter als Sohn aus. Dem Ganzen wohnt auch eine magische Komponente inne: denn in Afghanistan ist der Glaube weit verbreitet, ein als Junge verkleidetes Mädchen führe dazu, dass das nächste Kind tatsächlich ein Junge wird.
Und die Ehre und Glaubwürdigkeit einer Frau hängt eben davon ab, wie viele Söhne sie bekommt. Die Eingangs erwähnte Politikerin Azita könnte niemals ihre Provinz im Parlament vertreten, hätte sie nicht einen (verkleideten) Sohn - als Ehefrau mit nur Töchtern würde sie schief angesehen.

Ein falscher Sohn war besser als keiner, und die Menschen beglückwünschten sie zu ihrem Einfall.

Mehran - als Junge verkleidetes Mädchen

Hoffmann und Campe

Praktische Hintergründe

Für andere, ärmere Familien hat es einen praktischen Hintergrund: sie brauchen eine Arbeitskraft, die die Familie außerhalb des Hauses unterstützt - was nicht geht, wenn es nur Töchter gibt. Viele der bacha posh arbeiten in den Geschäften ihrer Väter als Laufburschen oder bessern das karge Familieneinkommen mit anderen Jobs auf:

Mit ihrem kurzen Haar und dem grauen Kittel spielt die zehnjährige Niima die Rolle perfekt. Doch ihre zarte Stimme verrät sie. Deshalb spricht sie kaum, wenn sie Abdul Mateen ist (...). Vormittags besucht Niima in Kleid und Kopftuch zwei Stunden die Schule. Danach geht sie heim, zieht sich um und arbeitet als Ladengehilfe in einem Lebensmittelgeschäft. (...) Sie bringt an einem durschnittlichen Tag umgerechnet 1,30 Dollar nach Hause. Davon lebt ihre paschtunsiche Familie, die aus acht Schwestern und ihrer Mutter besteht.

Nordberg findet heraus, dass einige afghanischen Frauen, die als Erwachsene arbeiten, in ihrer Kindheit als Jungen gelebt haben. Sie sagen, das habe ihnen das Selbstbewusstsein und den Ehrgeiz mitgegeben, eine Ausbildung zu machen und einen Beruf zu ergreifen.

Nicht zuletzt ist das Verkleiden als Jungen auch Widerstand mancher liberaler Väter (und Mütter), die mit den rigiden Geschlechtervorgaben in Afghanistan nicht zufrieden sind, die ihren Töchtern das Leben draußen, Bildung und Arbeit nicht vorenthalten möchten.

Schwieriger Weg zurück

Grundidee ist, dass die bacha posh nach einer gewissen Zeit wieder zu Mädchen werden. Rund um den Beginn der Pubertät, heißt es, ist der beste Zeitpunkt, damit sie heiraten und Kinder kriegen und damit ihrer gesellschaftlichen Bestimmung zugeführt werden können.

Buchcover: Afghanistans verborgene Töchter

Hoffmann & Campe

Jenny Nordberg "Afghanistans verborgene Töchter" ist im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.

Zum Weiterlesen

Auf bachaposh.com gibt es mehr Materialien und Fotoreportagen über die Bacha Posh in Afghanistan - und anderswo.

Aber nicht immer läuft das so reibungslos ab: Nordberg trifft Teenagerinnen, die verzweifelt versuchen, noch ein paar Jahre als Junge herauszuschlagen. Andere müssen die Frauenrolle wieder lernen. Zum Beispiel Shukria, die ihre Kindheit als Junge verbracht hat. Sie ist mittlerweile verheiratet, trägt Kleider und schminkt sich. Aber das alleine macht Frau-Sein nicht aus:

Eine anständige Frau saß, die Beine ordentlich untergeschlagen, auf ihren Füßen. (…) Shukria aber war es gewohnt mit weit gespreizten Beinen zu sitzen, daher verursachte ihr diese neue Haltung zwangsläufig Schmerzen. Auch dauerte es eine Weile, bis sie sich den richtigen Ton beim Sprechen angewöhnt hatte. Denn in einer rein weiblichen Gruppe wirkte ihre Stimme zu laut und zu tief.

Und ein paar gibt es auch, die das Mann-Sein bis ins Erwachsenenalter durchgehalten haben. Sie werden dann zu "Männern ehrenhalber" und vermitteln zwischen den zwei Welten, jener der Männer und der Frauen.

Differenziertes Bild von Afghanistan

Jenny Nordberg macht mir ihrem Reportagen-Buch einen breiten Fächer an Themen auf. Es geht um Genderidentitäten, um Traditionen und kreativen Widerstand dagegen. Sie hinterfragt aber auch verallgemeinernde Annahmen zur "Störung von Geschlechteridentitäten": viele der bacha posh haben sich ja nicht selbst entschieden, Jungen zu werden, sie werden zufällig von ihren Eltern dazu gemacht. Trotzdem weisen sie alle Merkmale einer solchen "Störung" auf. Kann es sein, fragt Nordberg, dass sich die Ablehnung der Rolle und des Körpers einer Frau auch einstellt, wenn ihr Geschlecht gesellschaftlich so offensichtlich verachtet und unterdrückt wird?

Aber nicht nur über die bacha posh erfährt man in "Afghanistans verborgene Töchter". Nordberg zeichnet mit ihrer Reportage ein differenziertes Bild von Afghanistan. Das Land befindet sich seit Jahrzehnten im Krieg und ist ebensolang Spielwiese verschiedenster Entwicklungshilfe-Organisationen - von denen sich viele die Frauenbefreiung auf die Fahnen geschrieben haben.

Nachdem man die brutale Unterdrückung der Frauen durch die Taliban jahrelang mitangesehen, aber weitgehend ignoriert hatte, kam man nun im Ausland darin überein, dass schnellstens mehr Gleichberechtigung nach westlichem Vorbild anzustreben sei. In jedem besseren Hotel in Kabul schienen "Gender-Workshops" stattzufinden, bei denen Amerikanerinnen und Europäerinnen mit Ethno-Schmuck und bestickten Gewändern Seminare abhielten und auf Whiteboards Kreise um Begriffe wie "politische Teilhabe" und "Bewusstseinsbildung" malten.

Die Befreiung der Frauen muss als Marker dafür herhalten, wie erfolgreich die Entwicklung des Landes ist. Politikerin Azita ist routiniert darin, Interviews zur Lage der Frau zu geben. Sie hätte gerne andere Themen in Afghanistan umgesetzt, verbindliche Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel oder der Abbau von Korruption. Doch die ausländischen Medien möchten lieber wissen, wie sie zur Burka steht.