Erstellt am: 28. 4. 2015 - 10:31 Uhr
Heftige Adoleszenzen
Radio FM4
Crossing Europe
Das Filmfestival in Linz von 23. bis 28. April.
Tägliche Berichterstattung aus Linz im Crossing Europe-Tagebuch auf fm4.ORF.at und auf
Heute ist der letzte Festivaltag in Linz. Nach fünf Tagen in Folge in Kinosälen stellt sich eine Sucht auf diese Bilderwelten und Geschichten ein. Doch der Wettbewerb des Crossing Europe ist beschlossen, gestern Abend wurden im Ursulinensaal im oberösterreichischen Kulturquartier die Preise verliehen.
Herausragendes, kritisches und kluges Filmschaffen kennzeichnete das Festival auch diesmal. Im Wettbewerb waren überwiegend Debütfilme zu erleben. Und erleben ist keine Übertreibung, die intensiven Zustände auf der Leinwand spürt man in den besten Momenten - auch wenn das des öfteren körperliche Anspannung bedeutete.
Den Hauptpreis am Crossing Europe 2015 - über 10.000 Euro gestiftet von Linz Kultur und dem Land Oberösterreich - teilen sich zwei FilmemacherInnen: Ana Lungu für "Autoportretul Unei Fete Cuminti" ("Self-Portrait of a dutiful daughter") und Ivan Ikić für das Jugenddrama "Varvari" ("Barbarians"). "Zwei gelungene Porträts von Jugendlichen aus zwei unterschiedlichen sozialen Milieus, die mit widerstreitenden Gefühlen von Sicherheit oder deren Fehlen kämpfen", befand die Jury.
Wobei Jugend als eine überdehnte Zeitspanne erscheint. Denn die Hauptfigur in "Autoportretul Unei Fete Cuminti" ("Self-Portrait of a dutiful daughter") ist eine Dreißigjährige, die nach dem Auszug ihrer bürgerlichen Eltern aus deren Mittelschicht-Wohnung in Bukarest allein zurückbleibt. Anders als die Protagonisten in "Varvari" ist hier die finanzielle Not nicht vordergründig.
Crossing Europe
Drei Jahre hat die Rumänin Ana Lungu an ihrem Regiedebüt gearbeitet, mit minimaler Förderung. Ihre eigene Geschichte diente als Inspiration, zudem besetzte sie ihre Eltern als jene der Filmfigur und drehte großteils mit Laien. Ihre Hauptfigur Christiana schreibt an ihrer Dissertation, und diese Frau müsste endlich ihr eigenes Leben beginnen.
"Varvari" läuft heute, Dienstagabend, um 21.00 Uhr nochmals im Movie 1 in Linz.
Crossing Europe
Beste Doku: Found-Footage Geschichtserzählung
"Flotel Europa" läuft heute, 28. April, um 21.30 Uhr im Movie 3
Zum zweiten Mal in der Geschichte des Festivals wurde der Crossing Europe Social Awareness Award vergeben. Mit diesem Preis wurde "Flotel Europa" von Vladimir Tomic ausgezeichnet. Geboren 1980 in Jugoslawien, floh Tomic als Kind mit seiner Mutter und seinem Bruder 1992 aus Sarajevo. Angekommen in Dänemark wurden sie in einem Schiff untergebracht, das verankert am Pier in Kopenhagen als Herberge für 1.000 jugoslawische Flüchtlinge diente.
Crossing Europe
An die in der alten Heimat verbliebenen Verwandten schickten sie Videobotschaften, um von ihrem Alltag als AsylwerberInnen zu erzählen. Tomics Vater blieb zurück. Montiert aus einhundert Stunden dieser VHS-Aufnahmen rekapituliert Tomic als Erzähler die ersten Jahre in Dänemark und den Zerfall Jugoslawiens, den sie aus der Ferne erlebten. In einer Szene besuchen dänische TouristInnen das ungewöhnliche, temporäre Zuhause und betrachten die Flüchtlinge wie exotische Fische in einem Aquarium. Für die Jury am Crossing Europe ist "Flotel Europa" gerade deswegen eine "universelle Geschichte vom Erwachsenwerden, von erster Liebe und ersten Abschieden vor dem Hintergrund von Krieg und Flucht".
Crossing Europe
Ferner Kontinent Europa
Für die GewinnerInnen hatte das Team des Crossing Europe Festivals zusätzlich Schneekugeln als kleine Souvenirs vorbereitet. Wie eine Schneekugel wirkt nach den Kinotagen in Linz auch Europa. Man hatte ein Bild davon im Kopf, vielleicht Schwarzbrot, Croissants und den Louvre, den Berliner Fernsehturm und Sonnenschirme an Stränden am Mittelmeer. Doch mit jedem Film wird dieses Bild aufgewirbelt.
Wieder war es extrem bereichernd, in den Linzer Kinos in so viele Länder hineinzuschauen. Wie vertraut und dann wieder verstörend fern dieser Kontinent einem oft ist – und nicht zuletzt wie schwer bewacht er wird, macht das Crossing Europe bewusst. Mir fällt kein Ort ein, an dem man binnen weniger Tage derart nah an so viele Lebenswelten kommt, ohne sich selbst viel bewegen zu müssen.
Tipp: Das /slasheinhalb Festival vom 29. April bis 1. Mai im Filmcasino, Wien
Zu schade, dass die meisten Filme hierzulande nicht mehr zu sehen sein werden. Man hätte doch noch so viele Empfehlungen für FreundInnen! Sehr super, dass die "Nachtsicht" in den kommenden Tagen in Linz beim am /slasheinhalb quasi eine Wiederholung findet. Schon jetzt ist die Vorfreude auf das nächste Crossing Europe groß.