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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

27. 4. 2015 - 19:59

Der Ursprung und die Lösung aller Probleme

Tocotronic singen auf ihrem elften Album lauter Lieder über Liebe. Der FM4 Artist Of The Week.

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Der Ursprung und die Lösung aller Probleme. Tocotronic singen auf ihrem elften Album lauter Lieder über Liebe.

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Tocotronic und die Liebe

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Arne, Jan und Dirk stellen ein paar schöne Lieder vor.

In "Unter dem Sand", dem letzten Stück auf dem letzten Tocotronic-Album "Wie wir leben wollen", kommt der Erzähler, wie im Halbschlaf, halb delirierend, ohne Hast an seinem Ziel an: einem Strand, der in einer anderen Realität als der uns bekannten zu liegen scheint. Im Song "Prolog" nun, der titelgemäß das neue Tocotronic-Album eröffnet, erwacht der Protagonist, konfus, orientierungslos wieder am Meer, "in einer toten Küstenstadt".

Die Hände zittern ihm, wie es im Song heißt, er "spürt die Gifte im System", übernächtigt, wie mag er hier hergekommen sein? Ein wie von Eric Rohmer ersonnener Fiebertraum im abklingenden Sonnenlicht, der in wenigen Skizzen ein Szenario nahezu ohne Plot entwirft. Eine Ahnung kommt auf, dass bald eine schöne Seltsamkeit ins Leben ziehen dürfte, der Wind dreht sich, am Ende des Textes von "Prolog" prangt der gut zitierbare Satz, wie in flammenden Lettern: Liebe wird das Ereignis sein.

Das neue, elfte Album von Tocotronic ist also "Das Rote", die Farbe Rot steht bekanntlich unter anderem für die Liebe und so erklärt die deutsche Band aktuell auch gerne, dass sie die Platte ausführlich ebenjenem immerwährendem Thema widmet. Ihre Version eines unschlüpfrigen Lexikons des Liebe, unsortiert, nicht komplett. Es gibt noch und immer wieder unerforschte Liebes- und Lebensformen.

Das Album selbst protzt zunächst nicht groß mit der Tatsache, dass man es hier mit einer Art Konzeptplatte über L.O.V.E. zu tun haben könnte, auch die Songtitel - mit einer Ausnahme - verheißen wenig von Liebesliedern. Abgesehen von dem Song "Ich öffne mich", dem zweiten Stück, das mit einer Zeile wie "Ich öffne mich und lasse dich in mein Leben" noch einmal so etwas wie eine schemenhafte Losung des Albums ausgibt, wird man einen derart starken und vermeintlich leicht lesbaren motivischen Slogan wie in "Prolog" auf dieser roten Platte erst suchen müssen.

Tocotronic nähern sich dem in der Geschichte aller Dinge schon gut betreuten Thema im Assoziativen, bleiben was Settings anbelangt im Vagen, sind dabei präzise in den Bildern, schlank in den Buchstaben. Es ist schon viel Schmalz gesagt worden. Kleine Schlenker ins im besten Sinne Alberne scheuen sie dabei nach wie vor nicht. Was ist aus der Metaphorik der Liebe noch herauszuholen? Das Stück "Haft" beispielsweise gibt dem titelspendenden, gemeinhin mit Freiheitsentzug assoziierten Wort einen neuen Dreh und deutet es in Richtung eines Verklebtseins mit einer geliebten Person: "Ich hafte an dir wie Tinte auf Papier, wie ein Sticker an der Tür". Gleichzeitig schwingt im Titel klar die Lesart mit, die auf mögliche Züge des Zwanghaften und Unentkommbaren einer Beziehung anspielt.

Das Buch der Liebe sei lang und langweilig, singen die Magnetic Fields in ihrem thematisch verschwesterten Album "69 Love Songs", Tocotronics Buch der Liebe jedoch ist kurz und aufregend. Zwar kommt die Platte auf gut 50 Minuten Spieldauer, vergeht dabei wie im Flug, transportiert kein Fett, die meisten der zwölfeinhalb Stücke spielen sich im guten, alten Popsongformat von drei, vier Minuten ab.

Auch fast alle Songtitel bestehen aus nur ein bis zwei Worten, nicht zufällig, den Albumtitel hat man gleich ganz weggelassen. Wer Lieder über Liebe schreiben will, muss haushalten, Reduktion und Minimalismus sind wesentliche Motoren der Platte. Geschichten, Storylines sind, wenn überhaupt, bloß in Fragmenten vorhanden, Sänger Dirk von Lowtzow erklärt keine verjuxten oder melancholischen Anekdötchen über Boy-Meets-Girl oder Boy-Meets-Boy oder über deine schönen blauen Augen.

Verstehen kann das dennoch jede und jeder für sich selbst. "Und während ich noch schwimme, gibst du auf mich acht", singt von Lowtzow im offiziell letzten Stück der Platte - freilich ohne irgendwelche Umstände eines Schwimmausflugs näher zu erläutern. "Unter deiner Decke fasst mich das Chaos an", heißt es in dem Stück "Chaos".

Tocotronic

Tocotronic

Die bleierne Schwere des Albums "Wie wir leben wollen" ist einer Luftigkeit gewichen. "Wie wir leben wollen" handelte nicht zu geringen Teilen von Verfall, Krankheit und morsch werdenden Körpern, auf der neuen Platte muss dem aktuellen Thema entsprechend mit der Bettfeder gespielt werden. "Wie wir leben wollen" war eine Rock'n'Roll-Aufnahme, quasi live eingespielt, von einer gleichzeitig gemeinsam spielenden Band als Band, gebannt auf geschichtsbewusstes Tonband.

Heute stehen die Zeichen auf Pop, ihre jeweiligen Parts haben die Bandmitglieder so nach gängigem Pop-Habitus einzeln aufgenommen, mit der Möglichkeit, danach zu schichten, zu schnippseln und zusammenzubauen - oder auch wegzunehmen. Neben dem mittlerweile schon fünf Alben lang mit der Gruppe verbandelten Produzenten Moses Schneider hat diesmal der Mischpult-Shootingstar Markus Ganter maßgeblich an der Platte mitgewirkt. Ganter hat sich bislang unter anderem durch Arbeit mit Casper und Sizarr einen Namen gemacht und hier als Co-Produzent fungiert, Soundexpertise und diverse Instrumental-Parts beigesteuert.

Die Platte lebt so von einer Beschwingtheit, glitzert und funkelt, wie's scheint ohne Mühe. Es gibt Synthesizer und Streicher, einen weit prominenteren Bass als man das von Tocotronic gewohnt wäre, vielstimmige Chor-Begleitung, eine Kalimba – aber eben nicht immer und dauernd und ständig. Auch wenn in musikalischer Hinsicht viel passiert, ist das Album nicht überladen. Die Platte weiß, dass man diese eine oder diese andere gute Soundidee nicht überreizen, nicht jeden Song mit all dem Möglichen zukleistern muss. Zwischen dem angeglamten Pop stehen ein, zwei, drei reduzierte, fast schon folksonghafte Stücke an der akustischen Gitarre. Tocotronic tänzeln, elegant wie eine leicht angeschickerte britische Art-Pop-Band aus den frühen 80ern.

"Liebe" - das bezieht sich ja nun nicht ausschließlich auf diese eine bekannte Konstellation, in der zwei Menschen einander gut und geil finden. Selbst wenn hier also meist der Liebe im engeren Wortsinne nachgespürt wird, wird ebenso in größeren Zusammenhängen gedacht: Liebe als Kleister und Transmitter. Zusammenhalte, Gemeinschaften, Vertrauensbündnisse, vielleicht Gangs, Banden, Communitys.

Tocotronic

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Das rote Album von Tocotronic erscheint am 1.Mai.

Und so kann es dann doch – bei aller Liebe – auch um ein Kettenbilden gegen eventuelle Feindbilder gehen. Der Hit "Die Erwachsenen" singt von rotziger Rebellion, Verweigerung, Rückkehr zur Unschuld und einer ersten jugendlichen Freude über die Ankunft der Schmetterlinge. Wie immer überlappen bei Tocotronic die Ebenen. Ein Stück nennt sich "Solidarität" und meint sie. Es leitet die - keinesfalls ironisch gemeinte - politische Geste über ins Private, zurück auf ein Sich-Aufeinander-Verlassen-Können.

Von dem Umstand, dass Liebe aber oft auch genau keinen höheren Zweck erfüllen muss als den Körper und die Psyche zum Glühen zu bringen und diese komische, unsichtbare, namenlose, bislang noch zu wenig wissenschaftlich analysierte Sensation in der Brust zum Leben zu erwecken, kündet gegen Ende des Albums der Song "Diese Nacht": "Wir sind zur gleichen Zeit erwacht. Das Licht des neuen Tages bestätigt den Verdacht, pädagogisch wertlos ist das Ergebnis dieser Nacht."

Es folgt der nur ein ganz bisschen versteckte Bonustrack "Date mit Dirk", in dem wiederum ein Erzähler – hier ist es der Sänger der Band Tocotronic - mit seiner einsamen Gitarre vor allerlei Vogelgezwitscher an einem frühen Morgen durch Wälder und Wiesen streunt. Leicht entrückt, vielleicht noch illuminiert von der feinen Nacht davor, von märchengleichen Natureindrücken erhellt und gewärmt, gleitet er – ähnlich wie in "Prolog" – durch traum-hafte Kulissen, diesmal jedoch scheint er, nach verwirrenden, tollen, wunderlichen Gefühlserfahrungen, glücklich. In den Spiegelungen des Wassers blickt er auf sich selbst. Auch das ist Liebe.