Erstellt am: 27. 4. 2015 - 13:24 Uhr
Lost in Movies
Crossing Europe
Crossing Europe
Das Filmfestival in Linz von 23. bis 28. April.
Tägliche Berichterstattung aus Linz im Crossing Europe-Tagebuch auf fm4.ORF.at und auf
"Lust in Movies" ist ein nächtlicher Vertipper, doch auch berechtigt. Der vierte Festivaltag am Crossing Europe beginnt mit Schlendriantum und wird fulminant enden. Auf dem Programm stehen "Mühlheim Texas - Helge Schneider hier und dort" und "Femme Brutal" über und mit den Künstlerinnen des Wiener Club Burlesque Brutal. Ungeahnte Parallelen werden sich auftun in diesen Werken junger RegisseurInnen.
Geheimnisse sind essentiell. Das weiß Helge Schneider. Niemand stelle sich einen großen Künstler wie Vincent van Gogh beim Einkaufen vor, sagt der sechzigjährige Multiinstrumentalist. Es habe sie nicht interessiert, wie die Bühnenpersonas des Club Burlesque Brutal im privaten Leben aussehen, wenn sie zum Supermarkt gehen, erklären Liesa Kovacs und Nick Prokesch am selben Abend. Und darin begründet sich eine große Stärke dieser beiden außergewöhnlichen KünstlerInnenporträts: Bühnenperformances und Interviewsituationen wechseln sich ab. Konzentriert, mit eigenem, klugen Blick und ohne Exkurse kommen die FilmemacherInnen den Persönlichkeiten vor der Kamera nahe. Dass "Wegbegleiter" und Freunde auch noch irgendwas Liebes über Helge Schneider für "Mühlheim Texas" in die Kamera sagen, darauf hatte die Regisseurin Andrea Roggon keinen Bock. In "Femme fatal" wird das Publikum der Burlesque-Show ausgespart, schließlich übernimmt das Kinopublikum diese Rolle. Man wird nicht zugequatscht in diesen Dokus. Die Interview-Passagen sind dicht an Inhalt.
Unterwegs mit Helge Schneider
"Mühlheim Texas - Helge Schneider hier und dort" startet demnächst in den österreichischen Kinos.
Für "Femme Brutal" sollte es unbedingt auch einen Kinostart geben
Richtig glücklich ist Helge Schneider mit seiner Musik. Diese Zufriedenheit überträgt sich beim Anschauen. Man ist unterwegs, in Mühlheim wird ein Wohnwagen mit dem Traktor durch den Garten gezogen und in New York eine Beatboxerin kurzum von einer zufälligen Begegnung auf die riesen Konzertbühne eingeladen. Improvisation perfektioniert Schneider in kürzester Zeit. "Ich rebelliere gegen den Irrsinn der Perfektion", gibt Schneider zu Protokoll. Ein perfekt wackeliger Tisch hingegen halte einen auf Trab. Sein Zugang zum Leben erinnert an kindliches Verhalten. Beim Rudern auf der Ruhr weicht er herabhängenden Ästen nicht aus, wenige Sekunden später äußert er die Befürchtung, sich hoffentlich nicht mit dem Fuchsbandwurm angesteckt zu haben. Man kann das nicht nacherzählen, es ist Situationskomik und sehenswert.
Ama Film GmbH
Als rothaariger Bub lernt Schneider, sein Außenseitertum zu seiner Stärke zu machen. Mit fünfzehn setzt er sich in einem grünen Anzug in die Fußgängerzone und spielt Gitarre. Sein musikalisches Talent mit eigenwilligem Humor zu verbinden, stößt lange Jahre auf wenig Gegenliebe. Als Kind wollte er schon ein Opa sein, weil Opas lustig, ja, die Clowns für ihn waren.
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Helge Schneiders Hündchen und sein Ranch-Studio mit zu kleiner Badewanne, Alexander Kluge und mit Tixo abgeklebte Augen, um wie ein Asiate auszusehen - wer mit Helge Schneiders "Käsebrot" nie etwas anfangen konnte, wird durch "Mühlheim Texas" beschämt.
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Ihr Körper, mein Körper, dein Körper
"Die Fantasie geht nicht weg. Da braucht man keine Angst zu haben. Die geht nicht weg", versichert Helge Schneider. Fantastisch in vielschichtiger Hinsicht ist das, was Denice Bourbon, Madame Cameltoe und Madame Don Chanel, Cunt, Denise Kottlett, Frau Professor La Rose und Doktor Sourial seit 2009 auf die Bühne bringen. Mit ihrem einstigen Club Burlesque Brutal und seit 2014 Club Grotesque Fatal transformieren sie Burlesque in Wien. Nackheit auf der Bühne wird zum Widerstand, die Bluse aufzureißen zur Ermächtigung.
Doch allzu selbsttherapeutisch ist das nicht und soll das nicht klingen, wirft eine der Performerinnen ein. Der weibliche Körper in der Kunst wird seit Jahrhunderten durch den männlichen Blick geformt. In den Interviewpassagen unterhalten sich die Künstlerinnen. Wie viel Politik in einer Bühnenshow transportiert werden kann, beweist der Film "Femme Brutal". Auf Weitwinkelaufnahmen wurde beim Drehen der Shows verzichtet, denn die würden längst nicht dem gerecht, was in diesem Theaterraum passiert.
Close-Ups bewegen sich wie der ZuschauerInnenblick von Pasties auf kreisenden Brüsten zu fantastischen Kostümen. Die Choreographie der Performance spiegelt sich perfekt in den Kamerabewegungen. Kein Blick hinter die Bühne ist vorgesehen. Doch das Ausmaß an Vorbereitungen, das Anfertigen von Kostümen und unglaublichen Requisiten (die essbare Ratte! Das Asia-Take-Away-Kleid!) und die Geschichten der Stücke werden einem schnell klar.
Crossing Europe
Großartiges Debüt
"Femme Brutal" haben Liesa Kovacs und Nick Prokesch mit einem Budget von 8.000 Euro, wenigen Drehtagen und zwei Jahren Arbeitszeit gefertigt. Bereits das Filmlogo verrät die Präzisionsarbeit. Ihre Filmarbeiten zuvor waren Dreiminüter. Das Debüt "Femme Brutal läuft am Crossing Europe in der neuen Programmschiene "Cinema Next Europe". "The straight have left the building", stellt Kurator Dominik Tschütscher fest und alle, die noch im Ursulinensaal sitzen nach dem Abspann - und das sind sehr viele - sind insgeheim vielleicht erleichtert, auch als queer gelten zu können.
Christoph Thorwartl | subtext.at
"Wir sind aufgefordert, unserere eigene Geschichte zu schreiben", erklärt Liesa Kovacs nach der Uraufführung in Linz mit einer Energie, die mitreißt. Große Worte seien das, ja, aber sowas von angebracht. Den nächsten Film würden sie nur mit gescheitem Budget angehen.
Schluß mit Nettsein
"Stay friendly - but we gotta stop being nice!", fordert am Nachmittag eine Frau der Schweizer Filmförderung bei der Gesprächsrunde zu "Gender Equality & Film Business" auf. Der Verein FC Gloria hat europäische FilmemacherInnen auf das Podium gebeten. Bis die Schweizerin im Publikum sich zu Wort meldet, herrscht Harmonie über das geteilte Prekariat. Zwei der Regisseurinnen mussten sich für die Realisation ihrer Filme einen Ko-Autor für das Drehbuch suchen, um Förderungen zu kriegen. Nun sind die Ko-Autoren die Ehemänner der Frauen. Auf dem Podium hat Maite García Ribot ihr Baby auf dem Schoß, für die zweite Hälfte des Talks hat der Ehemann das Kind umgeschnallt. Entzückung. Wäre da nicht diese Schweizerin: "Why do we create families? We need to be professional!" Hart sind ihre Ansagen. Dass Regisseurinnen Ko-Autoren heiraten habe System. Auch sollten die Frauen nicht soviel Zeit mit Gefühlen verschwenden. Säßen sieben Männer am Podium, würden die nicht ihre Befindlichkeiten kundtun.
Christoph Thorwartl | subtext.at
"Do your homework!", ruft die Schweizerin und untermauert ihre Ansicht mit Fakten einer Studie. Bei Einreichungen für Filmprojekte stehen die Geschlechterverhältnisse zu Beginn fünfzig-fünfzig. Geht es um die Drehbuchentwicklung, sind zwei Drittel der Einreichungen von Männern. Bei der Produktion verbleiben schließlich gerade mal zehn bis fünfzehn Prozent aller Förderungen für weibliche Filmschaffende. Dem nicht genug. Bei einer Studie zum Einkommen wurde deutlich, dass die Schweizer Filmemacherinnen für ein weit geringeres Entgelt dieselben Arbeiten liefern wie die männlichen Kollegen. "We gotta be serious here", mahnt die Schweizerin.
In Cannes seien dieses Jahr sechs Produzentinnen aus der Schweiz vertreten. Und 2015 werden die Filmfestspiele in Cannes erstmals mit einem Film einer Regisseurin - Emanuelle Bercots "La Tête Haute" - eröffnet.
Spätabends noch schnell nach Berlin
Am frühen Sonntagnachmittag herrscht im OK großer Andrang. Die freundlichen Menschen am Ticketingsystem schreien höflich die Filmtitel, rechte Warteschlange "Hide And Seek", links ein anderer Film, für den einem eine Karte in die Hand gedrückt wird. Hatte man gar nicht am Plan, aber auch schön, der italienische Ausflug mit "Quiet Bliss" in die Gegend von Lecce. Jung und Frau in Süditalien möchte man aber nicht sein.
Crossing Europe
Da schon lieber ein junger Mann in den Achtziger Jahren in Westberlin. Um endlich und in der dritten Vorführung "B-Movie: Lust and Sound in West-Berlin" zu sehen, nimmt man auch die zweite Kinoreihe im wohl steilsten Saal Österreichs, dem Movie 2 im OK, in Kauf.
Die junge Tilda Swinton fährt Fahrrad entlang der Berliner Mauer, Nick Cave hängt mit Blixa Bargeld ab, Gudrun Gut singt "Kaltes, klares Wasser" und all diese Archivaufnahmen von diesem wunderbaren Berlin betören. Es ist eine fiktive Geschichte und doch eine höchst persönliche, die hier vorgelegt wird und das Schwärmen über diesen Kinotag fortsetzt. Auch wenn einem schon die Kontaktlinsen aus den Augen fallen wollen und man es wieder nicht in die "Nachtsicht" geschafft hat. Bitte um Nachsehen. Der geschätzte Kollege Christian Fuchs kennt sich eindeutig besser mit fantastischem Film aus.