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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

26. 4. 2015 - 10:26

AussteigerInnenträume

Wie sie leben wollen: Von zarten Versuchungen bis zur DIY-Hölle präsentieren sich Kommunenentwürfe am Crossing Europe.

Frauengesicht mit Kreuzlicht im Auge - das Plakatsujet von Crossing Europe

Crossing Europe

Crossing Europe
Das Filmfestival in Linz von 23. bis 28. April.

Tägliche Berichterstattung aus Linz im Crossing Europe-Tagebuch auf fm4.ORF.at und auf

Filme aus 45 Ländern laufen am Crossing Europe in Linz und das ermöglicht tolle Gegenüberstellungen und Querverweise. Die Fiktion in dem einen Kinosaal wird von dokumentierter Wirklichkeit im nächsten überholt. Zusammenleben neu zu denken beschäftigt mehrere FilmemacherInnen.

Herumtollen in Gänseblümchen-Wiesen

Ein englisches Landhaus wird in "Hide and Seek" für vier Freunde zum Refugium vor dem urbanen Leben. Von beruflichen wie privaten Verpflichtungen wollen sie sich freisetzen. Freie Liebe ist auch ein Wunsch. Die britische Regisseurin Joanna Coates präsentiert dieses Vorhaben, als blende sie die Utopie von der Befreiung durch Kommunenleben aus, die von Teilen der Elterngeneration dieser Twentysomethings gehegt wurde. Kochen sieht man den ganzen Film hindurch niemand, die Freunde grillen Marshmallows und inszenieren Weihnachten. So radikal wie etwa die Selbstdarstellungen der Mühl-Kommune wird diese Fiktion nicht. Jeden Abend stellen sich die zwei Frauen und zwei Männer eine Aufgabe, zum Beispiel einander nackt zu zeichnen oder Pantomimespiel. Und über Nacht sperren jeweils zwei die anderen zwei in einem Zimmer ein. Sie wäre niemals derart glücklich gewesen wie hier, sagt eine der Frauen. Konflikt wird von außen, von einem Besucher ins Idyll getragen.

Vier Freunde liegen nackt und eng umschlungen in einem Bett. Filmstill aus "Hide And Seek"

Crossing Europe

Anders als gedacht, mein Schatz

Mehr behutsames Herantasten als hemmungslos leidenschaftliche Polyamorie charakterisiert das Experiment in "Hide And Seek". Die Beziehungskonstellationen bleiben im Vagen, dennoch sind die Zuneigungen unübersehbar. Es bilden sich Paare, obwohl das niemand wahrhaben will, schon gar nicht die Initiatorin und Gastgeberin. Sehr oft begeben sich die Freunde in Spielen zurück in ihre Kindheiten, ähnlich Familienaufstellungen erinnern sie Ereignisse. In den spielerischen Herausforderungen analysieren sie sich wechselseitig. "Is it true that you sabotaged every relationship that you had?" Die Wochen im Landhaus vergehen dennoch ohne großes Drama. Die Freunde kullern über die Wiesen, zelten und halten einander an den Händen, um alte Lieben symbolisch am Lagerfeuer auszulöschen. Irgendwie niedlich und harmlos ist das Freundschafts-Plus-Projekt in "Hide And Seek", und zumindest eine Überraschung hat Joanna Coates eingeplant. So könnte es sich tatsächlich gestalten, wenn jemand planlos eine kleine Kommune begründet.

Eine Frau trägt einen Karton und steht im Garten eines Landhauses. Filmstill aus "Hide And Seek"

Crossing Europe

In der DIY-Hölle

Aufregend ist dazu im direkten Vergleich der ganz alltägliche Familienwahnsinn des Tschechen Petr in der Doku "Stále Spolu" ("Always Together"). Der Mann mit dem Rauschebart hat Kybernetik in Prag studiert, jetzt zieht er mit seiner zehnköpfigen Familie durch die Lande. In jeder Einstellung des Films von Eva Tonamová entdeckt man eine weitere Handfertigkeit. Ohne Strom und ohne fließendes Wasser lebt die Familie in einem Wohnmobil, weder ein klassisches Bad noch ein WC stehen ihnen zur Verfügung. Selbst gewählt hat der Patriarch diese Lebensform für sich und die Seinen, nicht etwa aus Armut heraus. Jeder dritte Satz ist eine Androhung von Gewalt. Die Blicke der volljährigen Söhne sprechen Bände, auf Interviewfragen verstummen sie.

Zehnköpfige Familie steht nebeneinander und sich umarmend vor ihrem Zuhause, einem Wohnmobil

Crossing Europe Festival

Die wilde Kindheit unter strengem Regiment hat ihre Sonnenseiten. Filmemacherin Eva Tonamová schaut sich um, und das Publikum schaut und staunt. Es gelingt ihr, eine Freak-Show zu vermeiden. Petr und seine Ehefrau Simona werden den Stall der Ziegen verschlagen, sie müssen das temporäre Zuhause in einer sonst verlassenen Gegend winterfest machen und die Kanarienvögel im Käfig, einen Hahn und die Kinder ins Wohnmobil packen. Mit ihnen fährt man gegen Süden. Unter einer Autobahnbrücke will Petr das neue Zuhause begründen. Während eine schwangere Tochter zurückbleibt...

"Stalé Spolu" lässt einen nicht so schnell los. Wieviel Freiheit bietet doch eine Waschmaschine - angeschlossen an Wasserleitung und Strom.

Kleines Mädchen schaut zu Kanarienvögeln im Käfig auf und steht in einem improvisierten Badezimmer. Filmstill aus "Stále Spolu"

Crossing Europe

Und was wäre ein Mittelweg?

Auch ein österreichischer Film stellt die Frage nach Formen des Zusammenlebens abseits der Konsum- und Wegwerfgesellschaft: Im Film"Von Hier Aus" machten sich Johanna Kirsch und Katharina Lampert von der Südsteiermark bis nach Frankreich auf. Die KollegInnen von orf.at trafen die Filmemacherinnen zum Gespräch. Sie erzählen vom Aufwachsen mit den Idealen ihrer '68er Eltern, in bunten handgestrickten Pullis und mit Monchichis als begehrtem Spielzeug. Am Crossing Europe hat man am Montag nochmal die Gelegenheit, "Von Hier Aus" anzuschauen.