Erstellt am: 25. 4. 2015 - 17:12 Uhr
Die Neugründung des Abendlandes
Kirschblüten, Heuschnupfen, Marillenmarmelade zum Frühstück, das Setting zum Festivalauftakt in Krems ist wie gehabt traumhaft. Im Arkadenhof der Minoritenkirche steht ein gigantischer, begehbarer Würfel des Künstlers Bernhard Hammer, hinter dem Stadtsaal hat die deutsche Künstlergruppe Rimini Protokoll für ihr Theater-Rollenspiel "Situation Rooms" eine künstliche Welt aus mehreren Containern aufgebaut. Donaufestival-Kurator Tomas Zierhofer-Kin hängt kurz bevor es losgeht mit einem strahlenden Grinsen ausgedruckte Zettel auf: es ist ausverkauft.
Into the Void
Der Samstag beim Donaufestival Krems: Grouper, Battles, Helena Hauff, patten und mehr.
Rebuilding The World
Donaufestival, Tag 3: Godspeed, klingt.org, Platzgumer und mehr. Halbzeit beim Donaufestival.
Wenn später in der Nacht der amerikanische Performance-Prediger Reverend Billy gemeinsam mit dem Stop Shopping Choir seine umfassende Gospel-Messe gegen den Gensaatgut-Riesen Monsanto abhält, wenn der Künstler Fahim Amir mit seiner Gruppe ein Buch voll Excel-Listen mit Förderanträgen aus verschiedenen Kunstbereichen verbrennt, wenn auf den Bühnen die Grenzen zwischen Performer und Publikum, Mensch und übersinnlichem Wesen, Musik, Geräusch, Krach, Kontemplation und Extase gesprengt werden, dann präsentiert sich das Donaufestival schon am Eröffnungsabend wie man meinen will mehr denn je in seinem Element: Die Infragestellung tradierter Welterklärungsformeln, der Bruch mit gesellschaftlichen wie künstlerischen Traditionen, das Entwerfen frischer Lebensmodelle, das Einläuten einer neuen Zeit, alles scheint hier möglich. Zweitausend Jahre Abendland sind genug.
David Višnjic
Der Klangraum Minoritenkirche wird gleich zu Beginn von einem unaufdringlichen und umso funkelnderen Höhepunkt heimgesucht. Die texanische Ambient- und Drone-Helden Stars of the Lid haben sich für den Abend mit einem eigens zusammengestellten Streich- und Bläser-Ensemble zusammengetan. Diese schicken nun unendlich vorsichtig Harmonien ins mächtige Kirchenschiff, oft nur zwei Töne, minutenlang. Ein zärtliches Reiben der Frequenzen, ein sich gegenseitiges Verstärken und Ergänzen: Die Bandgründer selbst fungieren eher als Dirigenten oder kontemplativ lauschende Kuratoren und setzen an Gitarre, Bass und Synthesizer nur die allerzartesten Akzente, die sich als kaum hörbares Dröhnen und Zittern unter die Streicher mischen. Das Licht malt die Kirche blau, es ziehen ein paar Wolken. Mehr braucht es nicht.
David Višnjic
David Višnjic
David Višnjic
Tanzen oder Sich-Fallenlassen oder einfach den Bass durch die Fußsohlen spüren kann man daraufhin im Stadtsaal. Chris Carter und Cosey Fanni Tutti von den Industrial-Göttern Throbbing Gristle sind mit ihrem neuen Projekt Carter Tutti Void, das sie gemeinsam mit Nick Cold Void von Factory Floor ins Leben gerufen haben, geradezu prädestiniert für das Lineup des Donaufestivals. Ihr gemeinsames Album aus dem Jahr 2012 heißt "Transverse", es ist die Aufnahme einer Livesession und spiegelt in Titel und Artwork, das sich heute als schwarz-weiße Phasenverschiebungs-Visuals auf der Leinwand dreht, perfekt den Sound der Band wieder, eine zischende, pumpende Masse aus Industrial, frühem Techno und bohrendem Störgeräusch, in der man es sich nie allzu gemütlich machen kann. Ein stoischer Rave aus Rhythmusmaschinen, Laptops, E-Bass, Gitarre plus Geigenbogen und einem Mikro, in das Cosey Fanni Tutti, wenn man so will, von Zeit zu Zeit Stimmimpulse schickt.
Der australische Noise-Gigant Ben Frost, ebenfalls ein alter Freund des Donaufestivals, lehrt später den Stadtsaal das Fürchten in seiner bestmöglichen Form. Fotos braucht man im dichten Nebel, in dem er sein Letzjahres-Album "Aurora" zur Aufführung bringt, keine machen, man muss eher dazuschauen, in diesem Sturm aus apokalyptischen Rauschen und absoluter Kompromisslosigkeit Halt zu finden. Ein Eisbohrer dreht sich langsam ins Hirn, die Morgenröte bietet kaum Trost. Das Durchhalten wird sich ausgezahlt haben, die warme Frühlingsluft vor dem Stadtsaal muss danach erst einmal in Ruhe wirken.
David Višnjic
Die britische Komponistin und Musikerin Elizabeth Bernholz macht Musik als eine Form von Katharsis. Ihre Kunstfigur Gazelle Twin ist ein Zwitterwesen, eine Kreatur, der sie mit Strumpfmaske das Gesicht und die definitive Zuordnung zu einem Geschlecht raubt. Sie trägt das Sportgewand aus dem verhassten Turnunterricht in der Schule und bekämpft ihre Dämonen, die früheren Wirren der Pubertät, die Problematik der eigenen Körperwahrnehmung, die Auseinandersetzung mit Tod und Verfall mit scharfkantigen Beats, über die sie singt, faucht, flüstert stöhnt oder schreit. Ihre Performance ist geradezu perfekt, aber die Möglichkeit, dem Exorzismus in der Live-Variante noch eine weitere Dimension hinzuzufügen, mag Gazelle Twin nicht wahrnehmen. Ihre Geister liegen eben bereits in der Vergangenheit.
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Zum Abschluss der Nacht vollführt James Holden, von dem man in letzter Zeit mit Ausnahme der Jahrzehnteplatte "The Inheritors" viel zu wenig gehört hat, mit größter Eleganz das Kunststück, Club und Kraut von hinten aufzuzäumen. Melancholische Trance-Harmonien und dem Techno entsprungene Beats zelebriert er nicht als hedonistischen Effekt und Eskapismus-determinierte Vereinfachung von anderen Stilen, sondern er nimmt sie als Ausgangspunkt für ausufernde Exkursionen in Richtung Krautrock und Free Jazz. Mit seinem neuen Meister-Drummer scheint sich Holden, der selbst an einem wunderschönen Modular-Synthesizer herumsteckt, blind zu verstehen, für manche Stücke kommt ein Saxophonist hinzu. Glückseligkeit mit sehr viel Anspruch, es ist ein praktisch idealer Abschluss.
David Višnjic
Bereits seit 15.00 tobt heute in der Minoritenkirche das Showcase des britischen Freigeister-Kassettenlabels Opal Tapes, später erforschen Helena Hauff oder Powell die allerdunkelsten Winkel von Clubmusik. Die Ausverkauft-Schilder von gestern sind gleich hängen geblieben.