Erstellt am: 25. 4. 2015 - 10:56 Uhr
Dreifach Testosteron
Crossing Europe
Crossing Europe
Das Filmfestival in Linz von 23. bis 28. April.
Tägliche Berichterstattung aus Linz im Crossing Europe-Tagebuch auf fm4.ORF.at und auf
Laienschauspieler hat der deutsche Regisseur Stefan Butzmühlen gesucht. Darum sprach er in Berlin auf der Straße einen Mann an, der ihm auffiel. Ob der sich vorstellen könne, in seinem Film mitzuspielen? "Yes! I'm an actor!" - "Sorry", erwiderte Butzmühlen. Tja, so kann's zugehen bei den Vorbereitungen für Autorenkino. Jules Sagot bekam trotz Berufserfahrung die Rolle in "Lichtes Meer", diesem gay sailor movie", wie der Drehbuchkollege den Film bezeichnet. Eine Liebesgeschichte zu erzählen wollte Butzmühlen vermeiden - und das ist ihm leider gelungen. Man hätte es gern romantischer.
Denn die schönsten Liebesfilme am Crossing Europe waren bislang schwule. Jetzt, in "Lichtes Meer", heuert der Bauernhofbub Marek als Matrose an und verliebt sich. Unter Wasser beginnt der Spielfilm, der das Bisschen Handlung in präzisen Stimmungen und mit schöner Kameraarbeit erzählt. Das Licht ist halt einzigartig auf offenem Meer, und auch wenn es sich nicht um Maschinenromantik handelt, so war das Filmteam gewiss verliebt in die Kulisse Containerfrachtschiff/-hafen. Statt der Erklärstimme der Sendung mit der Maus, die nicht verwundern würde, setzt ein Voice-Over ein. Das wäre gar nicht notwendig, denn Marek gibt ohnehin alles preis mit seiner Mimik und das ist ein Kompliment.
Salzgeber & Co. Medien GmbH
Ein Schiff wird kommen - und mit ihm ein neuer Matrose
Die Tage auf so einem Frachtschiff werden lang. Die Vorstellung von Beziehung, die alles überdauert und exklusiv bleibt, sabotiert die Gegenwart. Es wogt die See, sie hebt das Frachtschiff und eine Arie aus Puccinis "Madama Butterfly" ertönt. Man hätte diesem Marek gewünscht, dass ihm Jean beim ersten Sex das T-Shirt ausgezogen hätte. Aber gut. Den nächsten Urlaub will man nach "Lichtes Meer" auf Martinique verbringen - betörend wucherndes Grün, faszinierendes Blau, hach.
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Warum der Regisseur in zwei Szenen die Genitalien der Schauspieler in den Fokus nimmt, will eine Zuschauerin beim Publikumsgespräch im ausverkauften Saal 1 des Linzer City-Kinos wissen. Ob die Schauspieler schwul wären, ist die Frage eines Zuschauers. "No." - "Too bad!".
Coming of age?
Schwul ist in der serbischen Produktion "Varvari" ("Barbarians") ein beliebtes Schimpfwort und ein Graffito an Hauswänden: "Stop Gay". Die persönliche Herausforderung des Tages lautet Coming-of-age-Filme zu schauen, und "Lichtes Meer" war die Entspannung zwischen serbischen Zuständen und Schweizer Gewaltexzessen ("Chrieg"!).
Vor der zweiten Spielminute fallen die ersten Schüsse. "Varvari" von Ivan Ikić zeigt, was Jugendliche machen, wenn das einzig Sichere die Perspektivenlosigkeit ist. Der siebzehnjährige Luka schmeißt ein hartes Ei auf den einzigen schwarzen Legionär der örtlichen Fußballmannschaft, er hat ein Gerichtsverfahren wegen einer anderen Sache am Hals und hängt mit dem nervigen Freund mit Spitznamen "Flash" ab, der wiederum bevorzugt am Handy gedrehte Blowjob-Videos von Bekannten teilt.
Die Lebensrealitäten in Serbien, das mit seinem Wunsch nach Turbokapitalismus die eigene Bevölkerung abgehängt hat, kommen in dieser Geschichte unaufdringlich zu Tage. Wenn die jugendlichen Hooligans sich ihre Kapuzen über die kahlrasierten Köpfe und "Kosovo ist Serbiens Herz" skandierend durch Belgrad ziehen, herrscht Stillstand. Reifeprozess gleich Null. Hart und trist ist das, aber durchaus ansehbar.
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Zur Entspannung für die Augen geht es an die Uferpromenade der Donau. Für die aktuelle Ausstellung "Love & Loss" im Lentos wirbt ein Plakat mit der jungen Kate Moss und erst Donnerstag hat die Stadt Linz den Ankauf des Valie Export Archivs - des Vorlasses der in Linz geborenen Medien- und Performancekünsterlin und Filmemacherin - beschlossen.
Maria Motter / Radio FM4
Ohne Ermessen
Die Spätvorstellung im Movie 1 im OK ist die Österreich-Premiere von "Chrieg", dem Langspielfilm-Debüt von Simon Jaquement. Den diesjährigen Max-Ophüls-Preis hat er bereits gewonnen, auch in Linz läuft der Film wie die anderen erwähnten im Wettberwerb. Soweit der Infotext, im Kinosaal kann man nicht mehr wegsehen. Obwohl man wollte.
"Heidiland ist abgebrannt" titelte ein Schweizer Medium und ich will ihnen diese Überschrift klauen. "Chrieg" ist in seiner Konsequenz bislang in Linz unübertroffen. Die extremen Aggressionen und die unheimliche Verletzlichkeit, die von den großteils LaiendarstellerInnen gespielt wird, wirken nach.
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Der Jugendliche Matteo ist verhaltensauffällig. Er hat keine Freunde, lädt Prostituierte in sein Jugendzimmer ein und schnappt sich, ohne seine Mutter zu informieren, das Baby-Geschwisterchen aus dem Kinderwagen und spaziert mit ihm in den Wald. Kurz nach der vermeintlichen Entführung des Babys, die nichts mehr als ein gedankenloser Spaziergang war, wird Matteo selbst "gekidnappt" - im vollen Einverständnis seiner Eltern. In einem Erziehungslager auf einer Alm, ohne Mobiltelefon oder Internet, soll sich der Teenager bessern.
Doch der Alm-Öhi Hans-Peter hat nichts unter Kontrolle. Auf Matteo wartet eine Jugendgang. "Können wir dir trauen", fragen die anderen Ausgesetzten und Matteo antwortet unsicher: "Weiß net". Matteo soll sich erst beweisen und zeigen, dass er ein Pitbull ist und kein Chihuahua. Ins Tal fährt die Bande ausschließlich für Raubzüge.
"Chrieg" ist eine Wucht, weil der Regisseur jeglichen Erklärungsversuch für diese Destruktion sein lässt. Sehr ratlos bleibt man zurück.
Inspirationen für den Film gab es etliche, für die Recherche besuchte Simon Jaquement eine reale Erziehungsmaßnahme: Bergbauern nehmen ein oder zwei Teenager für drei Monate auf. Das reale Camp sei sehr schön gewesen, wenngleich er ein striktes Telefonverbot für einen Fünfzehnjährigen, verbannt auf eine Alm wegen Kiffens, sehr hart fände.
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Simon Jaquements nächstes Projekt wird Schuld thematisieren und die Hauptfigur ist weiblich, vierzig und in einer christlichen Freikirche. Letztere würden in der Schweiz gerade boomen.
Klingt schon super, aber es ist viertel nach eins in "in the morning", wie der Moderator feststellt. Die Nacht ist noch jung und die Schlange der Wartenden vor dem Lift im OK reicht durch das Foyer. Die Nightline ruft.