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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

25. 4. 2015 - 20:44

Schema E

2015 verführt Esoterik zur Regression ins frühe Kindesalter, ist Psychologe Johannes Fischler überzeugt. Ein Interview zu seinen ausführlichen Recherchen für "New Cage - Esoterik 2.0".

Buchcover

Molden Verlag

"New Cage" ist im Molden Verlag erschienen

"Früher war's der Kirchgang, jetzt geht man ins Fitnessstudio", sagt Psychologe Johannes Fischler im Interview zu seinem Buch "New Cage - Esoterik 2.0 - Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt". Eine klare Tendenz verortet der Tiroler Autor in der Mitte unserer Gesellschaft: weil sie sich inmitten einer als hyperkomplex empfundenen Welt mit ihren alltäglichen Sorgen und Problemen immer öfter unverstanden zurückgelassen fühlen, suchen heute mehr Menschen denn je Zuflucht in esoterischen Heilslehren, von der "Engel-Kryonschule" bis zur "Matrix-Heilung". Die Versorgung des Selbst über den Rückzug in einschlägige Zirkel ersetze gesellschaftliche Teilhabe und bringe nicht zuletzt die Kassen all jener zum Klingeln, die ihre Heilsversprechen am "spirituellen Milliardenmarkt" feilbieten. Für seine Recherchen hat Johannes Fischler sich dem esoterischen Konsumismus in all seinen Facetten gewidmet und sich mit Engelsfestivals, Geistheilung, Lichtnahrung und den Vorstellungen von "Sternen-" und "Indigokindern" auseinandergesetzt. Fischler war dabei jeweils sowohl den gesellschaftlichen Anknüpfungspunkten der Esoterik-Vermarkter und ihren praktischen Herangehensweisen in der Kundenanwerbung, als auch den sozialen Folgen für Betroffene auf der Spur.

Ball

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Das Leben, ein buntes Knäuel...(Bild: Jim Wrenholt/CC by 2.0)

Ist die Unterteilung in "Schul-" und "Alternativmedizin" für Sie haltbar?

In Zeiten, wo wir nach Alternativen zu unserem gestressten Leben suchen, klingt "alternativ" irrsinnig schön, und "Schulmedizin", da "verschult", klingt irrsinnig bescheuert. Ich bin eher für "wissenschaftliche Medizin" - "Schulmedizin" ist für mich eher ein diffamierender Ausdruck bzw. in den letzten Jahren sehr diffamierend gebraucht worden.

Wo hört denn diese "wissenschaftliche Medizin" auf?

Aufhören tut's dort, wo es nebulös wird. Wo man Verantwortung nach außen abgibt - Psychologen würden sagen, wo man den "external locus of control" forciert: Wo Leute nicht mehr mit ihrem Verstand hinkönnen, Therapie- und Behandlungsmethoden innerlich nicht mehr nachvollziehen können, gerät das Ganze in den Bereich des Esoterischen. Dort passiert Manipulation, dort gibt es hierarchische Wissens- und Machtsysteme, dort werden Leute oft ins Verderben gezogen.

Ihr Buch trägt den Untertitel "Esoterik 2.0 - Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt". Hat das damit zu tun, dass heute alles, was Ihrer Ansicht nach dem Bereich der Esoterik zuzurechnen ist, weniger im Versteckten und Verborgenen stattfindet als vor ein paar Jahrzehnten und im Gegenteil eher etwas ist, womit man sich schmückt?

Ja, es ist genau so. "Esoterik 1.0" ist eher die "althergebrachte" Esoterik: Astrologie, Wünschelruten gehen, Granderwasser etc. bis hin zu den klassischen Sektengeschichten, die bilden gewissermaßen nur die "Basics". Heutzutage erleben wir immer spezialisiertere, esoterische, spirituelle Zirkel, die sich im Internet vernetzen und in ihren Größenfantasien immer mehr "nach oben spiegeln". Die "alte" Esoterik hat für mich noch dieses Schmuddelimage, das kennt man aus den klassischen Astrologie-Magazinen. Heute haben wir es dagegen mit einer Art Hochglanz-Spiritualität zu tun, eine "Mindstyle-Industrie", die eine breite Abnehmerschaft findet - etwa das deutsche Happinez-Magazin, mittlerweile eines der meistverkauften Frauenmagazine: eine wunderbare Mischung aus Vernunft und totaler Unvernunft. Früher hat man eben eher die Schmuddelecke im Buchgeschäft bevölkert, heute füllt Esoterik oft die größte Auslage. Früher hat es eher klassische Guru-Figuren gegeben: der geht her und versucht, sich von einem begrenzten Personenkreis möglichst viel Geld zu holen. Heutzutage verstehen sich deren Nachfolger als raffinierte spirituelle Unternehmer, die man auch nicht mehr in den Schlagzeilen der Bild-Zeitung findet. Die machen es geschickter und sagen, "nimm' ein bisschen weniger, aber dafür von vielen, um nicht zu sagen, vielen Tausenden". Über alle Vertriebskanäle des modernen Webmarketings verkaufen sie "Aufstiegs-Seminare" via Abo-System. Das kostet dann 100 bis 150 Euro pro Monat und man kann damit von zu Hause aus als spirituell Beflissener an der eigenen Erleuchtung arbeiten. Das Beste: ab einem gewissen Punkt kann der spirituelle Aufsteiger sich dann selbst "spiritueller Meister", "Lichtbotschafter" oder "Frequenzheiler" nennen. Er darf selbst als frischgebackener Guru in die Welt hinaus ziehen, neue "Schüler" in dieses Begeisterungsnetzwerk hineinnehmen, die ebenfalls zahlende Mitglieder werden, dieselben Produkte kaufen, dieselben Kurse buchen, selbst wieder zu kleinen Gurus werden, und selbst wieder hinausziehen. Hier sehen sie dieses epidemische Element: Ich spreche bewusst von einer sprituellen Epidemie, einer "Inflation der Meister". Mittlerweile finden Sie an jeder Hausecke einen Guru, Heiler, Meister, der Sie von irgendetwas befreien oder in die nächste Frequenz hinaufpushen will.

Ball

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.. aus feinstofflichen Partikeln...(Bild: Jim Wrenholt/CC by 2.0)

Ist das Hantieren mit technisiert wirkenden Begriffen bzw. mit einer Art "ehrwürdigem Jargon" heute auch ein stärkere Faktor als zuvor?

Sagen wir so: Früher waren eher Frauen von 35 bis ca. 50 die Zielgruppe, denen man ein "neues Image" verkauft hat, weil sie natürlich Nachteile sozialer und ökonomischer Natur haben - so hat sich die Frau spirituell aufwerten können. Heute sind auch Männer Teil des Zielpublikums. Dabei werden oft neumoderne Begriffe wie "Matrix-" oder "Quantenheiler" benutzt: Nichts anderes als eine Methode, dem als rationalisierungsbedürftig eingeordneten Mann und seinem Verstand einen Knochen hinzuwerfen. Über die Hintertür schleicht man sich wieder "emotional ein", ladet die Betroffenen narzisstisch auf und füllt sie ab: im Endeffekt das gleiche Spiel wie vorher.

Wie sieht gängigerweise eine erste Kontaktaufnahme mit fragwürdigen Heilslehren aus?

Sie können es so machen wie ich: Sie gehen in eine Apotheke, sagen, Sie haben Kreuzschmerzen, und schauen, was Ihnen so empfohlen wird. Vielleicht gehen Sie in eine sehr gut besuchte Apotheke im Herzen Wiens - da kann es ganz leicht passieren, dass Sie sogenannte "Engelsessenzen" empfohlen bekommen. Da werden Sie beraten vom Pharmazeuten im weißen Mantel, der erklärt Ihnen dann, wie dieses Zeug "gechannelt"; sprich "medial empfangen" wird, und wohin sie dieses Zeug in die "Aura" sprühen sollen. Das ist ja schon bedenklich. Aber das ganze wird noch einen Deut härter. Wenn man sich dann ansieht, welche Begrifflichkeiten auf den (Etiketten der, Anm.) Essenzen draufstehen, "St. Germain", "Maha Cohan", "Kuthumi" etc... dann googlet man zu Hause und findet heraus: das sind Namen aus der sogenannten "großen weißen Bruderschaft". Die "große weiße Bruderschaft" wurde von Helena Blavatsky, der Okkultistin schlechthin, propagiert. Sie ist quasi die Begründerin der modernen Esoterik im 19. Jahrhundert. Blavatsky hat damals ihre eigene Kosmologie und Theosophie entworfen - bei ihr gibt es verschiedene "Wurzelrassen". Die fünfte und "am weitesten entwickelte Wurzelrasse" unseres Planeten seien die "Arier" gewesen und wir als "Germanen" Abkömmlinge dieser "Arier" und deshalb "dazu berufen, die Führerschaft über die Welt zu übernehmen", und die "große weiße Bruderschaft" sei laut Blavatsky dazu da, uns mehr und mehr zu vervollkommnen. Sie soll uns dabei helfen, uns "reinzuwaschen". Blöderweise gibt es auch die Semiten, die laut Blavatsky "dazu verdammt" sind, aussterben zu müssen, denn sie seien eine "Verunreinigung" der "arischen Wurzelrasse". Zurück in die Apotheke: Genau diese Namen dieser "großen weißen Bruderschaft" können Sie im Herzen Wiens in einer sehr gut gehenden Apotheke, einem regelrechten "Wellness-Supermarkt", einkaufen.

Was waren andere "Erstanlaufstellen" im Zuge Ihrer Recherchen?

Wenn man sich einmal auf einem spirituellen Engelsfestival befindet, mit 1.800 Leuten im Saal, wird es wirklich interessant: Was da abgeht, spottet jeder Beschreibung und hat mit Aufklärung nichts zu tun. Menschen, die, eingeladen, wieder an Engel, Einhörner, Fabelwesen und Feen zu glauben, sich auch dementsprechend geben und kleiden. Was dort propagiert wird, ist eine Einladung zur Regression ins frühe Kindesalter - die Menschen sollen auch so gutgläubig und abhängig werden wie kleine Kinder. Zur Dramaturgie eines solchen Festivals: Das ist ja teilweise irrsinnig feierlich, alle Menschen sind sehr nett zueinander, da sind Menschen jeder Couleur, alt, jung, Mütter mit Babies, Leute mit ihren Hunden - und Sie werden es nicht glauben: nicht einmal die Hunde bellen! Ich habe mich auf das ganze länger eingelassen und plötzlich ist auch mir etwas passiert: Plötzlich habe ich mich inmitten dieser vielen netten Menschen auch selbst irrsinnig wohlgefühlt. Genau in diesem Moment habe ich zu mir selbst gesagt, "Johannes, stopp. Schalte bitte dein Gehirn, schalte deine psychologische, schalte deine Marketing-Perspektive wieder ein". Und wenn man das macht, erstrahlt das Panorama solcher Großveranstaltungen in einem ganz anderen Glanz - nämlich immer das gleiche Schema: Relaxation, Meditation, Indoktrination, Affirmation und Konsumation. Relaxation: die Frau, das Engelswesen ganz in weiß, sagt uns, wir sollen uns alle ganz tief "in den Raum hinein entspannen", wir sollen uns vorstellen, "wie sich unsere feinstofflichen Kanäle immer weiter auftun". Dann Meditation: Wir sollen uns vorstellen, wie wir in Licht und Liebe baden, wie wir alle in der Matrix göttlich miteinander verbunden sind. Jetzt muss man sich vorstellen, dass ein derartiges kollektives Innehalten ja die wenigsten Leute wirklich gewohnt sind - bitte, wer meditiert denn schon mit 1.800 Leuten im Saal!? Natürlich gibt es da und dort ein Wärmegefühl, natürlich beginnt es zu kribbeln, und ganz klar ist die Atmosphäre in so einem Saal wie elektrisch aufgeladen. Das Medium draußen sagt dann, "die Engel sind nun unter uns, sie sitzen uns zu Füßen", Jesus Christus sei nun im Raum, er "erteilt uns die Taufe der Liebe". Stichwort Indoktrination: etwas gespürtes, dieses Knistern, diese Atmosphäre im Raum, dieses Wärmegefühl, wird mit etwas unsichtbarem, sprich den Engeln, verknüpft: die Engel werden gewissermaßen gespürte Wirklichkeit. Dann erheben sich alle, engelshafte Gesänge erschallen durch den Raum, "ahey, ahey, ahey", hohe Frequenzen, gespickt mit sehr vielen e-Lauten und meistens in einer Sprache, die sich nicht unbedingt unseres Verstandes bedient. Das sind alles Wirkfaktoren, die dazu beitragen, dass das Denken immer mehr wegdämmert. Ein Marketingexperte würde sagen, das hymnische Hochgefühl, das vorhin provoziert wurde, wird nun noch mehr angeheizt: Affirmation. Danach kommt eine kurze Entspannungsphase und dann das Allerwichtigste: Plötzlich springen die Tore auf, alles stürmt regelrecht nach draußen, und dort warten schon die prallgefüllten Messestände, wo Sie esoterisch-energetische Devotionalien kaufen können - für und gegen alles mögliche, aber in erster Linie gegen Bares: Konsumation.

Haben Sie auch mal versucht, einen sanften Widerspruch zu äußern?

(lacht) Also, einmal bin ich des Raumes verwiesen worden, weil ich enttarnt wurde - obwohl ich mich immer sehr in weiß gekleidet habe. Teilweise habe ich in den Spiegel geschaut und gedacht, der DJ Ötzi steht vor mir - ich bin mir wirklich sehr bescheuert vorgekommen. Man muss sich aber farblich anpassen. Es wird nämlich in neospirituellen Zirkeln über Insider-Gazetten kommuniziert, man solle sich eher in himmelblau, rosarot, orange oder weiß kleiden, um die "innerste Herzensreife" zum Ausdruck zu bringen. Dementsprechend war ich auch unterwegs. Einmal wurde ich also enttarnt. Ich habe auch da und dort versucht, Widerspruch zu äußern, und - man ist ein Mensch - es ist ganz interessant, welch strafende Blicke man teilweise erntet, wo es einem hernach wirklich schlecht geht. Man reagiert ja emotional mit. Man hat auch ein limbisches System. Aber diese strafenden Blicke oder die Missachtung, die einem teilweise entgegenfährt, wenn man sich erlaubt, das jeweilige Tabu zu brechen, ist schon interessant. Das ist mir da und dort passiert. Aber es ist mir auch gelungen, da und dort mit Menschen ein offenes Gespräch zu führen - es gibt Menschen, die verstehen, dass ich diese und jene Sache nicht glaube. Aber in den eher elitäreren Kreisen, wo nur Insider reinkommen, ist Widerspruch absolut mit tödlichen Blicken beantwortet worden.

Kugel

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...und verschlungenen Imaginationen...(Bild: Jim Wrenholt/CC by 2.0)

Kann man sich dann schon ein bisschen vorstellen, wie es Menschen geht, die aus solch einer Gemeinschaft verstoßen, ausgeschlossen worden sind? Haben Sie sich im Zuge Ihrer Recherchen auch an Menschen gewandt, denen so etwas widerfahren ist?

Ich habe einige Monate investieren müssen, mit Aussteigern Kontakte aufzubauen. Da und dort hat man welche in diversen Internetforen gefunden. Als Psychologe, als Teil der wissenschaftlichen Welt, bin ich natürlich absolutes Feindbild. Da muss man dann möglichst empathisch einen Bezug aufbauen, den Leuten versichern, dass sie absolut anonym bleiben. Die Leute haben oft massive Angst haben, dass, wenn sie sich outen, negative Energien über sie herfallen. Ich habe nach langen Recherchen auch Originalmaterialien zugespielt bekommen, die es so am Markt nicht gibt. Da wurde mir dazugesagt: Wenn du dir diese Meditations-CDs, Broschüren, Selbstindoktrinationswerke anschaust, dann pass auf, dass du nie dabei allein bist, konsumiere nie zu viel auf einmal, rede mit jemandem darüber, denn da sind Reptilienenergien oder sonstwas drin verborgen. Da sieht man wieder, wie es diesen Menschen geht: Auch wenn sie aussteigen, sind sie oft immer noch in diesem paranoiden magischen Weltbild gefangen. Das ist das Problem: Die gehen dann oft zum nächsten Heiler, und erwarten sich dort eine Lossprechung von diesen Besetzungen und Verfluchungen, die sie woanders erfahren hätten. Der aber redet den Leuten dann noch mehr Magie ein. Die Leute werden wieder enttäuscht, gehen zum nächsten Heiler, und so pflanzt sich das fort. Die legen oft eine jahrelange Tournee hin, sind danach fix und fertig und entwickeln teilweise Suizidgedanken. Es gibt nicht umsonst bei Sektenberatungsstellen die sogenannte "Entfluchung". Das ist eine Art hypnotherapeutische Intervention. Wenn jemand bei solch einem Experten landet, weil er sich verfolgt fühlt, dann hat er eh Glück, weil er in dieser Hypnotherapiesitzung symbolisch von der Besetzung "freigesprochen" wird. Betroffene berichten, dass sie wirklich spüren können, wie ihnen eine jahrelange Last sprichwörtlich von den Schultern fällt.

Sie haben anhand eines Experiments, das an der Uni Regensburg durchgeführt wurde, beschrieben, wie sich solch jahrelang "aufgeladene" Autosuggestionen gegen einen selbst wenden können...

Man hat sogenannte "elektrosensible" Personen eingeladen. Also Personen, die von sich glauben, dass sie elektromagnetische Felder spüren können. Im ersten Durchgang hat man diesen Personen "Elektroarmbänder" angelegt, die heiß werden, und hat erfasst, welche Zentren im Gehirn bei diesen Probanden aufleuchten, wenn sie starken Schmerz verspüren. Im zweiten Durchgang hat man denselben Menschen Handies in die Hand gedrückt, und, siehe da, dieselben Schmerzzentren im Gehirn wurden wieder aktiv. Das heißt, die haben mit diesem Handy in der Hand starke Schmerzen verspürt. Was sie nicht wussten: In diesem Durchgang waren die Handies ausgeschaltet. Das nennt man "Nocebo-Effekt", von lat. "nocere" ("schaden"), also der "kleine Bruder"; die Schattenseite des Placebo-Effektes: Ich erleide einen Schmerz, eine negative Wirkung, obwohl gar nichts da sein kann. Das heißt: Imaginationen, Emotionen, Kognitionen, die ineinandergreifen, darf man nicht unterschätzen.

Wie funktioniert die zeitgemäße Vermarktung in den von Ihnen untersuchten Geschäftsfeldern?

Früher war die Esoterik gedacht als eine Art Gegenmodell zum Kapitalismus, als Gegenmodell zur beginnenden Moderne, zur Industrialisierung. Die heutige Esoterik, sozusagen Esoterik 2.0, ist der Inbegriff von Hyperkapitalismus und Konsumzwang. Nehmen Sie so einen Engelsspray: den können Sie ja bald einmal an der Tankstelle kaufen. Ein Engelsspray ist ein wunderbarer esoterisch-energetischer Verbrauchsartikel: Wenn ich mich heute "Lichtbotschafter" oder "Energieheiler" nenne, habe ich meistens eine ganze Galerie von derartigen Essenzen zu Hause. Spätestens nach ein paar Wochen muss ich dann wieder nachkaufen, sprich, "auftanken", in den Webshop gehen und wieder nachbestellen. Dieses Nachbestellen-Müssen wird von den Betroffenen aber nicht als blöd oder lästig empfunden, nein, das ist indirekt sogar gewollt: durch die fortlaufende Konsumation hat man hier nämlich Teil an einer esoterischen Cyberwelt. Die Konsumation beschert eine kultische Teilhabe durch die laufende Geldopferung an diese Community. Das ist genau das, was man eine sogenannte "Klientenreligion" nennt. Man braucht nicht mehr das ganze Geld der Menschen, man braucht keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlen. Man bekundet Teilhabe durch die Konsumation der entsprechenden Verbrauchsgüter. Das beste daran: durch das fortwährende Nachkaufen kann man sich und anderen fortwährend die eigene spirituelle Entschlossenheit unter Beweis stellen. Ich kaufe, also bin ich. Ein Restzweifel ist ja immer da. Aber indem ich mich selbst ständig dabei erwische, wie ich quasi ohne äußeren Zwang immer wieder nachbestelle, kann ich ja nur meine "innerste Herzensebene" dafür verantwortlich machen. Und durch die Konsumation immer teurerer Produkte kann man sich und anderen beweisen, wie weit man schon auf dieser spirituellen Karriereleiter emporgestiegen ist. Das beginnt bei Energie-Essenzen um 23,50 Euro und geht über Energie-Amulette um 300-400 Euro bis hinauf zu sprituellen Engels-Colliers um ein paar tausend Euro.

Limette

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... oder doch eine Zitrone?(Bild: Ivy Dawned/CC by-SA 2.0)

Kann man sich das vorstellen wie eine Art permanente Prüfung und Absolution, die aber zusammenfallen?

Absolut richtig. Was sich hier entwickelt, ist eine Art Sucht. Ich vergleiche es gerne mit Spielsucht. Menschen schmeißen immer mehr Geld in den Spielautomaten, obwohl, oder weil sie nie den Jackpot knacken. Denn nur anhand der eigenen, fortlaufenden Geldopferung kann sich der Spielsüchtige immer wieder aufs Neue beweisen, dass er wirklich noch an den großen Jackpot glaubt. Legen wir das um auf Erleuchtung: Nur durch meine eigene fortlaufende Geldopferung kann ich mir selbst aufs Neue weismachen, dass ich wirklich noch an die Erleuchtung, die fünfte Dimension, den Aufbruch ins neue Zeitalter oder sonst etwas glaube.

Kann man anhand dieses überbordenden Bedürfnisses nach Reinheit und Gesundheit sagen, dass das Streben danach eine Art "Ersatz-Wert" geworden ist?

Ja. Man fragt sich immer, wieso heutzutage "Heil" und Gesundheit so wichtig geworden ist - oder sollte sich das fragen. Es hat sicher auch einmal Zeiten gegeben, wo Demokratie, Menschenrechte oder vielleicht Nächstenliebe wichtiger waren. Aber heute leben wir im "century of the self", da sind wir selbst uns die Nächsten. Viele sprechen auch von einer sogenannten "health-style-Gesellschaft", und wer heute sich selbst und seine Gesundheit balsamiert, gilt ja quasi schon als "guter Mensch". Ich sage gerne "Wellness-Ethik" dazu: wenn du dich wohl fühlst, wenn du dich gut fühlst, dann hast du automatisch irgendwie Recht.

Woher rührt die gespürte Sinnlosigkeit oder das jeweilige Unbehagen, das Menschen auf Sinnsuche schickt?

Wir leben heutzutage in einer Multi-Options-Gesellschaft. Ich gebrauche gerne den Begriff des "multi option disease". Wir hätten einen "Mangel an Sinn" im Leben, hört man immer wieder. Man kann es aber auch anders sehen: Wir haben ein Überangebot an Sinnmöglichkeiten: von A wie Ayurveda bis Z wie Zen-Buddhismus haben wir unzählige Möglichkeiten, uns selbst zu designen. Das macht uns aber auf Dauer nicht glücklicher, denn kaum habe ich mich für eine Variante entschieden, habe ich im nächsten Moment - wir haben ja einen Selbstverwirklichungsdruck in uns - schon das schlechte Gewissen, dass ich etwas verpassen könnte. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz sagt treffend, "everyone needs a fishbowl", jeder braucht sein schützendes kleines Goldfischglas, das ihn ein Stück weit nach außen isoliert. Genau diese schützenden kleinen Goldfischgläser, diese selbstgefälligen Einhausungen, verkauft uns die Esoterik und sagt uns ganz genau, was zu tun ist und wer wir sind: "Du bist ein Lichtarbeiter der neuen Zeit, berufen, dieses und jenes zu vollbringen, gehe hinaus und heile die Welt, hole weitere herbei, energetisiere dich und deine Verwandtschaft" etc.

Viele Menschen haben ein klares Bewusstsein dafür, dass etwa ihre Berufs- und Zukunftschancen bei steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr so gut aussehen wie die der Generation zuvor. Gleichzeitig gibt es weniger Vertrauen ins politische System. Spielen esoterische Angebote dem eigenen Rückzug aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in die Hände?

Ja. Esoterik ist für mich nichts anderes als eine Flucht aus der Welt. Es ist ein radikales Extrem-Biedermeier, das in der Esoterik ausgebrochen ist. Man kann es sogar vergleichen mit Online-Rollenspiel-Sucht: wir haben es heutzutage ja vermehrt mit sogenannten stoffungebundenen Süchten zu tun. Die Spielsucht ist eine davon. Ein Kind hat zum Beispiel einen emotionalen Ausgangspunkt - Sorgen, Ängste, Zweifel etc. Wenn ein Kind online geht und spielt, kommt es zu einer magischen Entwirklichung von Problemen - plötzlich sind alle Probleme "weg", weil man in einen anderen Bewusstseinszustand wechselt. Was machen esoterische Menschen? Sie machen Imaginationen, Invokationen, Meditationen und wechseln ebenso in einen anderen Bewusstseinszustand, und plötzlich sind alle Probleme "weg". Bei einem Kind werden in dieser Situation vormals unruhige Erregungsmuster im Gehirn synchronisiert und damit verbunden stellt sich ein gewisser "Kick" ein. Und weil diese scheinbare Lösung überraschenderweise so gut funktioniert, wird blöderweise das Belohungszentrum im Gehirn aktiv. Es kommt zur Freisetzung von Dopamin und anderer endogener Opiate, damit verbunden ein Glückrausch. Dann kommt es zu Bahnungsprozessen im Gehirn, die durch das Dopamin angeregt werden, und die Verhaltensweisen und Emotionen, die damit einhergehen, werden immer mehr miteinander verschränkt - das Kind bleibt immer länger online, es kommt zu noch mehr Problemen in der Schule und zu Hause, also im "Außen", und das Kind geht infolgedessen immer noch länger und anhaltender online, denn hier "bin ich ja der Held". Irgendwann laufen diese Verhaltens- und Denkmuster automatisiert ab und es kommt zu einer Verewigung im Suchtgehirn, einer "Sucht ohne Stoff". Umgelegt auf den esoterisch involvierten Menschen: Er wechselt in einen anderen Bewusstseinszustand und je mehr er sich hineinliest und hineinimaginiert, mit den jeweiligen Produkten ihren Alltag sakralisiert und sich mehr und mehr als "Lichtarbeiter" oder "wandelnder Heiland auf diesem Erdenrund" empfindet, desto eher macht er sein Leben zu einer Art "Online-Rollenspiel", wo die Esoterik von einem Besitz ergreift und das eigene Dasein permanent verzaubert. Dann sind wir bei jener "Wiederverzauberung der Welt", wie sie die Menschen auch wirklich erleben. Je länger sie sich darin bewegen, desto weniger können die Menschen ringsum mit. Es kommt zu Spannungen und Problemen mit Freunden, Verwandten und im Beruf. Als Resultat flüchtet man sich immer weiter hinein, und es entwickelt sich ebenfalls eine "Sucht ohne Stoff".