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Paul Pant

Politik und Wirtschaft

23. 4. 2015 - 16:48

EU-Parlament: Flüchtlingshilfe sonst Blockade

#blockthebudget - Statt mehr Geld für Rettungsaktionen will die EU einen noch härteren Kurs gegen Flüchtlinge einschlagen. Im EU-Parlament drohen jetzt 60 Abgeordnete mit einem Budget-Boykott. Michel Reimon von den Grünen im Interview.

Nach den Trauerminuten kommt statt einer Rettungsmission ein Militäreinsatz gegen mutmaßliche Schlepperboote. So fasst der EU-Abgeordnete Michel Reimon von den Grünen die Pläne der Staats- und Regierungschefs nach den Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer zusammen. Der EU-Gipfel zur Flüchtlingsproblematik setzt auf einen harten Kurs. Schwerpunkt ist der Kampf gegen Schlepper und illegale Migration, wie aus dem Entwurf der Gipfelerklärung hervorgeht. Noch mehr Abschreckung, noch eine härtere Gangart gegen die Schlepper.

In letzter Konsequenz bedeutet der 10-Punkte-Plan der Staats- und Regierungschefs der EU militärische Angriffe auf souveräne Staaten, sagt der EU-Abgeordnete Michel Reimon. Der österreichische Politiker ist sichtlich empört, wenn er davon spricht, dass jetzt auf „Flüchtlingsboote geschossen werden soll“ und als Legitimation heißen sie dann „Schlepperschiffe, weil das besser klingt“, sagt er.

Mit etwa 60 Fraktionskollegen und anderen Mandataren plant er im EU-Parlament nun den Aufstand. Die Gruppe um Reimon sagt: Wenn es keine echte Rettungsmission gibt, dann soll es einen Boykott in allen Budgetfragen geben. In einem offenen Brief an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz und die Mitglieder des EU-Parlaments fordern sie andere Mandatare auf, sich ihnen anzuschließen.

Michael Reimon

Europäische Union, 2014 – EP

Die Hauptforderung der EU-Parlamentarier ist die Aufstockung der finanziellen Mittel für Rettungsmissionen. Die hohe Anzahl der Toten in diesem Frühling sehen Kritiker in den kürzlich vorgenommen Einsparungen in diesem Bereich begründet. Das von Italien allein finanzierte Rettungsprogramm „Mare Nostrum“ ist im Herbst 2014 eingestellt worden (und kostete ca. 9,3 Mio. Euro/Monat) und wurde durch das EU-finanzierte, weitaus günstigere Frontex-Programm „Triton“ (ca. 2,9 Mio. Euro/Monat) ersetzt. Darin wird der Fokus vor allem auf die Grenzkontrolle gelegt und nicht auf eine umfassende Rettungsmission von in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten. Im Vorfeld des EU-Sondergipfels ist zwar auch wieder mehr Geld versprochen worden, aber – das sagen die Kritiker – es wird immer noch um ein Drittel weniger sein als vor den Kürzungen 2014.

Das Interview mit Michel Reimon führte Andreas Gstettner-Brugger

In ihren eigenen Worten noch einmal: Worum geht’s Ihnen hauptsächlich in diesem Boykottaufruf?

Michel Reimon: Eine EU-Institution nach der anderen fordert sich gegenseitig auf, endlich doch irgendetwas zu tun und irgendwie diese Menschen zu retten und eine Lösung zu finden. Das reicht nicht. Wir haben im Europaparlament vorige Woche die fünfte Schweigeminute für tote Flüchtlinge im Mittelmeer abgehalten. Der Parlamentspräsident Martin Schulz hat eine sehr bewegte und ehrliche Rede gehalten. Er hat gesagt, 'das ist meine fünfte Schweigeminute, wann werde ich die nächste halten?' Vier Tage später war dieses Unglück mit bis zu 800 Toten.

Es geht also darum: Was können wir tun? Am besten wäre natürlich, wir beschließen die Aufnahme des Rettungsprogrammes, das kann aber das Europaparlament mit seinen Kompetenzen nicht. Wir können dieses Programm nicht beschließen, wir können aber sagen, wir beschließen kein Budget, wenn dieses Programm nicht drinnen ist.

Was passiert jetzt gerade?

Michel Reimon: Ich suche jetzt Abgeordnete, die das unterstützen. Es haben jetzt schon 60 Abgeordnete großteils telefonisch zugesagt, dass sie dabei sind und jedes Budget blockieren werden, dass kein Rettungsprogramm beinhaltet.

Sie brauchen mindestens die Hälfte der Abgeordneten, das sind dann noch recht viele, die Sie überzeugen müssen. Wie wahrscheinlich ist, das Sie diese Überzeugungsarbeit leisten können?

Michel Reimon: Wir haben nächste Woche in Straßburg eine Sitzung, wo alle physisch im Parlamentsaal anwesend sind. Da werden wir es dann realistisch abschätzen können. Die Rückmeldungen sind jetzt schon viel besser als ich dachte. Wir werden die Hälfte brauchen, also 376 Abgeordnete. Die Sache hat ja noch eine schöne Drehung: die rechten und rassistischen Parteien sind ja auch EU-Gegner und stimmen immer gegen das Budget. Die tragen gegen ihren Willen dazu bei, dass wir die Blockademehrheit leichter erreichen als nur mit unseren Stimmen.

Es geht um etwa 78 Euro Millionen Euro, die akut für Rettungsmissionen von Italien gefordert werden. Das EU-Budget ist mit 141 Mrd. Euro recht groß. Das sind nur 0,05 Prozent des Gesamtbudgets. Zynisch gefragt, rechnet die EU wirklich: 1700 tote Flüchtlinge sind weniger wert als 78 Millionen Euro?

Michel Reimon: Nein, natürlich nicht. Es ist eine politische Entscheidung, dass man das nicht will. Das ist ja nicht nur eine Frage des Betrages. Das jetzige Programm kostet ja nicht nur weniger, es hat auch ganz andere Aufgaben. Das jetzige Programm setzt Schiffe vor Italien, der Küste der EU ein, um Boote abzufangen, die an der Küste anlegen. Was dieses Programm nicht macht und das vorige gemacht hat, ist auf offener See Schiffe in Seenot zu retten. Das alte Programm hat, wenn ein Schiff in Seenot war und 100 Kilometer entfernt war, Kurs auf dieses Schiff genommen und versucht, diese Leben zu retten. Das macht das jetzige Programm nicht und lässt dieses Schiff untergehen. Das heißt: es geht nicht nur um diesen Betrag. Es geht um ein echtes Rettungsprogramm. Der Betrag ist verschwindend gering. Es muss der politische Wille da sein - und wenn der politische Wille bei den Regierungen nicht da ist, dann werden wir eben das Budget blockieren und diesen Willen erzwingen.

Über das Budget wird sozusagen versucht Druck auszuüben. Hat das EU-Parlament keine anderen Wege, solche Rettungsmissionen zu fördern beziehungsweise denen das Geld zukommen zu lassen?

Michel Reimon: Das ist die negative Konsequenz des Kompetenz-Malheurs. Die Mitgliedsstaaten wollen Kompetenzen nicht ans Europa-Parlament abgeben, sondern entscheiden das selbst und entscheiden das so, wie sie es tun. Wir im Europaparlament tun jetzt das, wofür wir Kompetenzen haben. Ich würde es unerträglich finden, wenn wir am Montag wieder eine Schweigeminute für die Toten halten und nicht irgendetwas tun, um das zu beenden.

Was sind Ihre Erwartungen heute für den EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs? Wird es wieder so viel Geld wie vor den Kürzungen geben?

Michel Reimon: Das lässt sich gerade nicht abschätzen. Das größte Problem am Gipfel ist nicht die Höhe der Summe, sondern die Richtung, in die geplant wird und wie das ausgegeben werden soll. Der 10-Punkte-Plan, der verabschiedet wurde und jetzt noch im Detail diskutiert wird, ist aus meiner Sicht ein Skandal. Denn der zweite Punkt in diesem Plan umfasst das Zerstören von Flüchtlingsbooten. Also letztendlich militärische Angriffe auf diese Boote. Man nennt das jetzt Schlepperschiffe - klingt besser als 'wir schießen jetzt auf Flüchtlingsboote', aber letztlich geht es darum. Das ist vollkommen inakzeptabel. Menschen, die vor Not, Krieg, vor dem Islamischen Staat, vor Mord und Vergewaltigung geflohen sind, dann noch mit militärischen Einsätzen deren Schiffe zu zerstören. Kommt jetzt nach dem Krieg gegen den Terror der Krieg gegen die Flüchtlinge, oder was? Also es ist nicht nur eine Frage der Budgethöhe, sondern es geht in die vollkommen falsche Richtung.

Was kann dieser EU-Gipfel leisten? Was kann da ein mögliches Ergebnis sein?

Michel Reimon: Das Ergebnis, das zu erwarten ist, wird ein Programm sein, das möglichst scharf gegen Flüchtlinge vorgeht. In der Rhetorik wird man dann gegen Schlepper vorgehen. Die nur deswegen überhaupt schleppen können, weil es keinen einzigen legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa gibt. Und es wird ein semi-militärischer geheimdienstlicher Abwehrauftrag werden. Es sollen ja jetzt auch Fingerabdrücke genommen werden im Rahmen dieses Programms. Da fragt man sich: Es gibt 800 Ertrunkene und wir nehmen Fingerabdrücke von den Überlebenden als Antwort darauf? Das ist ja so was von zynisch und menschenverachtend, es ist unglaublich.