Erstellt am: 24. 4. 2015 - 11:00 Uhr
Oral History Lessons
Crossing Europe
Das Filmfestival in Linz von 23. bis 28. April.
Tägliche Berichterstattung aus Linz im Crossing Europe-Tagebuch auf fm4.ORF.at und auf
"Boldly step into the dark and shine a light. And don't be afraid of the dark, don't be afraid of the unknown. Go!", ermuntert einen der Astro-Biologe Christopher McKay in "The Visit", einem der fünf Eröffnungsfilme des Crossing Europe. Der Forscher muss es wissen, sein Arbeitgeber ist die NASA. Seine Aufforderung, sich nicht vor Begegnungen der besonderen Art zu fürchten, ist zugleich eine sehr schöne Beschreibung für Kino. Die Projektoren sind angeworfen, das Crossing Europe Filmfestival ist eröffnet und bis inklusive Dienstag kommender Woche begibt sich das Festivalpublikum auf cineastische Reisen durch Europa.
Crossing Europe
Du bist ein Alien - oder doch nicht?
Du bist ein Alien, bestimmt die Off-Stimme der Doku "The Visit - An Alien Encounter" die Rolle jeder Zuschauerin und jedes Zuschauers zu Beginn. "Willkommen auf Erden". Bei der Verheißung von extra-terrestrischem Kontakt ist die Vorfreude groß und das Gedankenspiel wäre ja ein amüsantes Experiment. Doch der neue Dokumentarfilm des dänischen Regisseurs Michael Madsen ist leider erschöpfend und die Simulation geht nicht auf.
Seit der Erfindung von Radio und Fernsehen sendet die Menschheit Signale ins All. Doch was, wenn die Aliens tatsächlich zurückfunken und ankommen? Unbekannte Flugobjekte zeigt der Film nicht, insgeheim hätte man nichts gegen obstruse Aufnahmen zur Unterhaltung. Stattdessen erfährt man, welche WissenschafterInnen und Institutionen sich ernsthaft mit der Möglichkeit der Existenz von Außerirdischen und in weiterer Folge ihres Besuchs bei uns beschäftigen. Und dass es nicht weniger geworden sind, seitdem die Voyager Golden Records in den 1970er Jahren mit Bildern, Musik und Grußworten in 55 Sprachen und einer Botschaft des damaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim entsandt wurden.
Heikki Faerm | Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Während sich die ProtagonistInnen auf das Gedankenspiel einlassen, wird es zunehmend langweiliger. Im britischen Verteidigungsministerium setzen Regierungssprecher ein erstes Statement an die Bevölkerung auf. Die Astro-Physikerin Mazlan Othman von der UNOOSA in der Wiener UNO-City weiß, dass zuallererst der Sachverhalt geklärt werden müsse, also jemand muss zum Ufo gehen und checken, ob es tatsächlich eines ist. Das Büro für Weltraum-Angelegenheiten der UNO kennt kein Protokoll für den Fall eines Zusammentreffens von Menschen mit einer anderen Lebensform als der uns bekannten. Auch gibt es keine Rechtsgrundlagen für den Ernstfall, berichtet ein pensionierter Jurist.
Heikki Faerm | Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Es geht in der Doku nicht um Aliens, sondern um die menschliche Natur. Die WissenschafterInnen werfen Fragen auf: Hast du Vorstellungskraft? Kennst du die Unterscheidung zwischen Gut und Böse? Was macht dich glücklich? Die symbolische Bebilderung dazu mit Bauten, Kunst und Alltagsleben ist recht bieder, die Wachsmodelle des Josephinums sollte man sich vor Ort anschauen. Die größte Erkenntnis des Films hat Regisseur Madsen einem Astrobiologen zu verdanken, der im Schutzanzug für die Kamera durch einen Wald spaziert: "Fünfzig Prozent meiner Zellen sind nicht meine eigenen, sondern Mikroben, die auf oder in mir leben".
Lieber: Migrantinnen zuhören
Feine Unterhaltung ist indes "Evdeki Ses - 22 m²", der Diplomfilm von Ufuk Serbest und einer der beiden österreichischen Eröffnungsfilme in Linz. Drei Frauen, einst türkische Einwandererinnen nach Österreich und Ehefrauen von Gastarbeitern, erzählen geradlinig und offen ihre Biografien. Von Kindheiten in der Türkei an bis zum gegenwärtigen Leben als Arbeiterinnen, Ehefrauen, Mütter und Großmütter in Linz. Als Mädchen träumten sie von Deutschland, aus dem ihre Väter nur wenige Wochen im Jahr zu Besuch kamen, und dann kamen sie selbst in Oberösterreich an - mitten im Wald, und da war nur ein Haus in einem Wald, erzählt eine der Frauen im Rückblick nicht ohne Humor.
Peligro
Filmisch zwar ein klassisches Oral History-Dokument, unterhält und berührt "Evdeki Ses - 22 m²" allerdings durch die tolle Erzählweise dieser Persönlichkeiten. Die Frauen sprechen durchgehend Türkisch über ihr Glück, über erarbeitete Zufriedenheit und auch über eigenes und fremdes Scheitern. Über arrangierte Ehen in Jugendjahren, zweite Hochzeiten, die Arbeit in Brillen- und Hühnerfabriken und Kinder, die erwachsen wurden und eigene Vorstellungen verfolgen, während Eigenheime angespart und abbezahlt wurden.
Die Untertitel sind gelungen. Fast poetisch etwa bei der Erinnerung an die ersten Tage in Österreich: Wo Menschen in tiefer Nacht auf der Straße waren, um gegen fünf Uhr morgens zur Arbeit zu fahren. In der Türkei würde man vor dem Sonnenaufgang nicht aufstehen. Und da war die Hoffnung, dass sich die Schönheit dieses fremden Landes Österreich am Morgen zeigen würde.
Regisseur Ufuk Serbest dankt bei der Premiere "dem besten TV-Sender der Welt, dorftv", der ihm mit Equipment half. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Gastarbeitern sind gut dokumentiert, doch ihre Frauen kamen bisher noch kaum zu Wort, erklärt Serbest seine Motivation. Beim Publikumsgespräch war die Begeisterung der ZuschauerInnen groß. Der türkische Titel lässt sich übrigens schwer übersetzen, so circa mit "die Stimme zuhause" oder "der Klang zuhause".
Peligro
Genau hinschauen
Gesellschaftspolitische Positionen europäischer Filmschaffender bestimmen die Auswahl des Festivalprogramms von Crossing Europe auch im zwölften Jahr. Was an den Außengrenzen der EU geschieht, sei eine Schande für die Union, die sich die Menschenrechte auf die Fahnen heftet, sagt Crossing Europe-Intendantin Christine Dollhofer bei der gestrigen Eröffnung.
Kurz danach lief der erste Dokumentarfilm des diesjährigen Wettbewerbs mit toller Kameraarbeit: "Evaporating Borders", Regie Iva Radivojevic und produziert von Laura Poitras, porträtiert Zypern und seine Menschen. Es ist ein faszinierender Reisefilm in ein unbekanntes Zypern, fern der Ferienanlagen, der einen eigenen Sog entwickelt. Man ist mit Schauen beschäftigt und nimmt jede Information auf. ZuwandererInnen aus Sri Lanka und den Philippinen, ehemalige Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, sowie russische, orthodoxe Vermögende und Bootsflüchtlinge (die größte Gruppe sind PalästinenserInnen aus dem Irak) leben auf der Insel, die durch ihre eigene konfliktreiche Geschichte noch Möglichkeiten der Ankunft in Europa bietet. Der Zypernkonflikt ist der älteste Konflikt in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Gewisse Abschnitte am Niemandsland können von Behörden nicht kontrolliert werden. Kentern Boorte, bleiben die Toten unbemerkt. Es sei denn, Fischer finden die angeschwemmten Körper am frühen Morgen.
Crossing Europe
Nach dem Doku-Reigen am gestrigen Eröffnungstag heute: Fiktion!