Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Quereinsteigen für Genießer"

Sophie Strohmeier Philadelphia

Film, Film, Film

23. 4. 2015 - 12:13

Quereinsteigen für Genießer

Der zweite Teil der Avengers-Reihe, mit frischem Aug' gesehen.

Als viele von uns noch klein waren, lebten wir mit dem ständigen Schrecken der Unvollendung: Episoden von begehrten Serien flackerten mit scheinbarer Willkür durch den Nachmittag, nur um sich danach auf Nimmerwiedersehen zu vertschüssen. Setzten sich einmal die Eltern durch, war das Wetter schön oder gab der Fernseher den Geist auf, mussten ein Film oder eine Episode ausgelassen werden und wurden bestenfalls durch Nacherzählung erlebt. Manchmal war der Film in der Videothek bereits verborgt. Oder irgendwer konnte keine Videokassetten aufnehmen, weil die aus waren, oder der Startknopf zufällig nicht aktiviert werden konnte. Manche von uns hatten nicht einmal einen Fernseher.

Fan-basiertes Miteifern und Spekulationen, wenn diese überhaupt gleichgesinnte Begeisterung fanden, begrenzten sich auf den Informationsumfang des Freundeskreises und der nächsten Skip-Ausgabe.

Chris Evans und Chris Hemsworth

Walt Disney Studios Motion Pictures

Captain America (Chris Evans) und Thor (Chris Hemsworth): Pals.

Manchmal glaube ich, dass viel von einem richtig begeisterten, besessenen Fan-Dasein eine Antwort auf diese Ungewissheit und Informationsarmut ist: alles muss gesammelt, gewusst, gesehen werden, um diese Unvollendung von damals zu füllen. So genießen wir Film- und Fernseh-Franchises, indem wir Chronologien, Subplots und Extended-Editions beobachten.

Dachte ich zumindest bisher! Aber dann habe ich mir einfach so The Avengers: Age of Ultron angeschaut, nachdem ich es über die Jahre hinweg geschafft hatte, fast alle der Marvel Cinematic Universe-Filme unabsichtlich zu versäumen.
Eigentlich wusste ich zu Beginn nur, dass The Avengers so eine Art Mash-Up ist und dass alle Figuren, die aus einst separaten Filmen stammen, irgendwie miteinander zusammenarbeiten.

Scarlett Johansson als Black Widow

Walt Disney Studios Motion Pictures

Leiwand: Scarlett Johansson als Black Widow

Und dann beginnt Age of Ultron schon so in medias res, in einer Schlacht in einem verschneiten Narnia-Wald in Eastern Europe, (ein Eastern Europe in dem Farbpigmente leicht verblasst sind und alle so reden, als würden die slawischen Sprachen in der Gurgel lungern. Ganze Städte wachsen auf Hügeln wie Festungen, und kyrillische Buchstaben hängen über den kleinen Geschäften. Es ist quasi wie im Märchen) da ist ein Typ mit Pfeil und Bogen, gespielt von Jeremy Renner aus The Hurt Locker (2008). Captain America (Chris Evans) erkennt man gleich am Outfit; Scarlett Johansson ist superschoaf – aber war die nicht böse?
Hulk ist auch super; er schaut sogar als Hulk aus wie Mark Ruffalo. Und Mark Ruffalo schaut aus wie Hulk. Am schönsten aber ist: Hulk wird bei Wutausbrüchen noch immer grün (und nicht etwa, sagen wir, grau, beton-farben und dunkelgrau, wie alles dort bei DC, wo Batman und Superman abhängen).
Allein bei Iron Man brauche ich sehr lange, um überhaupt zu schnallen, wer von den vielen fliegenden Robotern der Iron Man ist – immer nur sehe ich Robert Downey Juniors Gesicht in Close Up auf eine Art, die mich irgendwie an 2001 - A Space Odyssey erinnert.
Als Gegenspieler gibt es die Super-Zwillinge Scarlet Witch (Elizabeth Olsen) und Quicksilver (Aaron Taylor-Johnson); was mich ein bisschen verwirrt – wegen X-Men: Days of Future Past dachte ich, Quicksilver käme aus Kalifornien, aber jetzt kommen halt beide aus Osteuropa.

Mark Ruffalo und Robert Downey Jr.

Walt Disney Studios Motion Pictures

Mark Ruffalo als Bruce Banner (Hulk) und Robert Downey Jr. als Tony Stark (Iron Man) - findet ihr eigentlich auch diese leuchtenden Chip-Karten so gut, die Iron Man da in der Hand hat?

Innerhalb der nächsten 142 Minuten springt der Film zwischen Afrika, USA, Korea, Osteuropa, dem Weltall und verschiedenen Traumwelten umher. Alles hüpft, fetzt und bäumt sich, im einen Moment sieht man via Flashback kleine Ballerinas in Moskau, und gleich darauf glitzern Wolkenkratzer und Maschinen, und Hypertexte schweben in Büros. Coole Typen wie Idris Elba, Andy Serkis und Stellan Skarsgård tauchen auf. Die Spezialeffekte sind geschmeidig und eigentlich wirklich schön – in einer sehr berauschenden Sequenz, z.B., in der wir durch Iron Mans Träume flutschen, macht der Verstand Oooh und Aaah wie beim Durchblättern der Hubble Telescope Photos im National Geographic – die Dynamiken unter den Figuren sind witzig und bedürfen nicht wirklich viel Erklärung.
Und das ist wohl die größte Erleichterung: dass Plot-Kenntisse mittlerweile zum neuen Kaugummi-Pickerl geworden sind – wer viele davon besitzt, ist zwar ein wahrer Fan, wirklich brauchen aber tut sie niemand.

Es ist irgendwie befreiend, nicht ganz zu wissen, was alles soll, wo oder wer das alles ist; und da ich den Film mit keinem anderen Avengers-Film vergleichen kann, ist alles neu und spannend. Vor allem muss ich daran denken, dass es nun genau ein Jahrhundert her ist, seit sich die Surrealisten in Paris einer ähnlichen seriellen Kinofreude hingaben.

Angeblich verfolgten die Surrealisten ihre Filme am liebsten in fragmentierter Form; es erschien ihnen nicht notwendig, einen Film zur Gänze zu sehen. Besonderen Gefallen sollen André Breton und Louis Aragon an den Abenteuern von Les Vampires (1915) von Louis Feuillade gefunden haben – hier treibt eine gefeixte Diebesbande in Paris ihr Unwesen, allen voran die Antiheldin Irma Vep in ihrem fantastischen Kostüm (samt ihrem Latex-Anzug kommt Irma Vep 1996 bei Olivier Assayas erneut zur Geltung; glücklicherweise erhält das Kostüm sogar einen eigenen Subplot). Feuillade, der für seinen Einsatz von Schurken als Helden viel moralische Kritik einstecken musste, setzte wenig später den maskierten Schurkenjäger Judex ein (dieser wurde 1963 von Georges Franju wunderschön wiederbelebt).

Musidora als Irma Vep

Unknown

Musidora als Irma Vep in einem 'Publicity Still' für Les Vampires (1915)

Ist Judex womöglich ein Vorgänger der nordamerikanischen Superhelden? Feiert der Superheld im Kino derzeit gar seinen 100. Geburtstag?

Wie dem auch sei. Avengers: Age of Ultron ist im Kino. Have fun.