Erstellt am: 25. 4. 2015 - 11:35 Uhr
Gebt mir die magische Peitsche!
Prelistening
"The Magic Whip"im Stream zum Anhören.
Der Eisverkäufer und seine neuen Songs - Simon Hadler von orf.at über das neue Album von Blur
Im Nachhinein geniert man sich ja oft für seine Abgeklärtheit, aber ja doch, die Skepsis war angebracht. In einer Zeit, wo der sterbliche Rest einer Band wie Pink Floyd deren Diskographie ernsthaft so eine dünne Suppe wie den "Endless River" als Schlusspunkt verpasst, hegte selbst die gutgläubigste Natur ihre Bedenken gegenüber einer Entstehungsgeschichte wie jener des neuen Blur-Albums "The Magic Whip":
Ein Album, von dem die Band gar nicht wusste, dass sie es aufgenommen hatte.
Fünf Tage improvisierte Sessions bei einem ungeplanten Zwischenaufenthalt in Hong Kong, die alle schon wieder vergessen hatten, als Graham Coxon, weil er – laut eigenen Aussagen – nicht bloß herumsitzen wollte, sich Monate später mit Produzent Stephen Street darüber hermachte.
Und siehe da, in den verstreuten Files hatte ein Töpfchen Studiogold auf seine Bergung gewartet.
Warner
Nein, eine Band wie Blur pflegte ihre Alben nicht zwischen den Sofakissen zu finden, sondern sich bei ihrer Erschaffung eine ganze Welt drum herum auszudenken.
Dieser Hang zum Konzept war ein Teil ihres Charmes, damals in den mittleren bis späten Neunzigern, als das antagonistisch/kooperative Zwiegespann von Coxon und Albarn zum letzten Mal zusammenarbeitete.
Selbst "Go Out", der erste Song aus "The Magic Whip", der bei der überraschenden Pressekonferenz im Februar als erster Vorgeschmack präsentiert wurde, war nüchtern betrachtet die Sorte von Ein-Akkord-Ding, das eine Band wie Blur bei einer Session im semi-automatischen Modus jederzeit ausspucken kann (vgl. etwa das unter ähnlichen Umständen entstandene "Music is my Radar"). Zweifellos cool, aber ein ganzes Album davon hätte die Welt nicht gebraucht.
Meine Zweifel verflogen erst Anfang März schlagartig in einem klimatisierten Büro eines Musikindustriekonzerns, der seit dem letzten Blur-Album mehrfach seinen Besitzer, sein Hauptgebäude, seine Mitarbeiter_innen und schließlich auch sein Logo gewechselt hatte.
Warner
Die Geheimnistuerei rundherum war pure Realsatire (der Zettel, den ich unterschreiben musste, las sich wie Ian Fleming meets Kafka), aber schon mit den Eröffnungstakten von "Lonesome Street" ("wie ein verschollener Schlüsselsong aus 'Modern Life Is Rubbish', klingt überhaupt nicht wie ein Jam" war meine erste Notiz) war augenblicklich klar, dass das ein Album zum Ernstnehmen sein würde.
Interessanterweise beschrieb Damon später beim Interview, das ich an einem grauen Morgen Ende März mit ihm und Graham im Büro ihrer Management-Firma führte, genau denselben Eindruck. Was Graham und Stephen Street ihm, Albarn, da letztes Jahr in roher Form vorgesetzt hatten, habe ihm ein herzhaftes "Fucking hell!" entlockt. Das sei offensichtlich nichts zum locker Drübernudeln gewesen, sondern etwas, das ernsthafte Arbeit verlangte.
Gut, dass Damon das auch erkannt hat, denn "The Magic Whip" ist das konziseste, konzentrierteste Blur-Album seit "blur" (1997) geworden. Mit dem Unterschied, dass Albarn heute künstlerisch um einige Weltreisen weiter ist als damals. Coxon übrigens auch. Nicht etwa weil die inzwischen auf seinen Solo-Alben ausgelebten Noise- und Folk-Fantasien hier zum Vorschein kämen, sondern weil er sichtlich die Freude am Interpretieren und Ausformulieren der Albarnschen Ideen wiedergefunden hat. Und die gern unterschätzte, aber wesentliche Rhythmusgruppe aus Dave Rowntree und Alex James war zum Zeitpunkt der Sessions immerhin weit genug entfernt von ihren bürgerlichen Berufen in Käseproduktion und Juristerei, sowie zudem noch warmgespielt von ein paar Live-Shows knapp davor.
A propos Interview: Einige Ausschnitte daraus waren in der zweiten Stunde meiner Heartbeat-Sendung vom vergangenen Montag zu hören. Nicht nur über das Album, sondern zum Beispiel auch über so Dinge wie das Verschwinden der wilden Gegenden am Rand von Colchester, wo Graham als Jugendlicher seine aufgestauten Aggressionen los wurde. Oder über die politischen Verhältnisse in der Band.
Unter diesem Archiv-Link hier kann man das alles gern online konsumieren:
Was ich dagegen aus Gründen falscher Bescheidenheit rausgeschnitten habe, war Damons Einladung, mir doch die Probe für die am nächsten Tag angesetzte Live-Premiere anzuhören. Während er mit dem Rad vorfuhr, folgten Graham und ich im Taxi in Richtung des "Mode"-Clubs unter dem Westway.
Graham, den ich schon Jahre nicht mehr gesehen hatte, war zerknautscht aber gut gelaunt. Er erzählte mir davon, wie er Paul McCartney getroffen hatte (ich glaube, es war backstage in Coachella), jener unter Ausstoß des Wortes "You!!" direkt mit ausgestrecktem Finger auf ihn zugekommen sei und ihn zu einem längeren Gespräch über die Möglichkeiten des Musikmachens außerhalb der vorgegebenen Formen des Pop in ein Eck verschleppt habe. Und wie Grahams ältere Tochter nachher ganz verzaubert von dem Erlebnis war, ein Küsschen von einem echten Beatle abbekommen zu haben.
In meiner kleinen Welt ist es ja der ultimative Test der Integrität jedes/jeder irgendwie mit Gitarrenmusik befassten Musikers/Musikerin, wie er/sie mit der Weihe einer McCartney-Begegnung umgeht. Den Test besteht, wer noch Jahre später beim allerersten, wie weit auch immer hergeholten Anlass davon erzählt. Alle anderen sind Zyniker_innen und böse.
Übrigens war Blurs Probe dann ein sehr glaubhafter Beleg dafür, dass "The Magic Whip" nicht nur auf ProTools, sondern auch im echten Leben existiert. Aber darüber hab ich schon anderswo was geschrieben (man muss sich seine Geschichten schon einteilen), also belassen wir es einmal bei einer Empfehlung für die kommenden Live-Termine.
Außerdem empfohlen: Der große Blur-Tag auf FM4 kommenden Samstag, beginnend in der Morning Show, mit reichlich Songs aus dem am Freitag erscheinenden Album und weiteren Ausschnitten aus meinem Interview mit Damon und Graham.