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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

22. 4. 2015 - 12:04

Erste und zweite Klasse Mensch

Das Ertrinken von den Kindern, die sich im unteren Deck eines Flüchtlingsbootes befanden, ist nicht für alle eine Tragödie.

Die Gespräche in der Wiener U-Bahn während der Rush-Hour sind das beste soziale Barometer Österreichs. Die Menschen kommen von der Arbeit zurück nach Hause, sie sind müde und sprechen vielleicht gerade deswegen ohne jegliche Hemmungen. Niemand ist besonders „politisch korrekt“ um diese Zeit.

Vor einigen Wochen drehten sich viele U-Bahn Gespräche um das Germanwings-Flugzeug, das in die Alpen gekracht ist. Viele U-Bahn Fahrgäste diskutierten eifrig über das Leben des angeblich depressiven Copiloten, der das Flugzeug vorsätzlich gegen die Berge flog. Alle diese Gespräche wurden von Angst begleitet. Angst, dass das „uns und unseren Nächsten“ auch passieren könnte. Die Fahrgäste sahen sich selbst im Flugzeug und solidarisierten sich mit den Opfern und ihren Familien.

Gestern lauschte ich wieder zufällig einem U-Bahn-Gespräch. Irgendjemand sagte: „…jetzt sind sie wenigstens 700 weniger.“ Es ging um das gekenterte Flüchtlingsboot im Mittelmeer und darum, wie die Kontrolle der Flüchtlingsboote strenger werden könnte, damit niemand mehr die Ufer Europas erreiche. In ihren Worten gab es keinerlei Besorgnis, dass das „uns und unseren Nächsten“ passieren könne. Es kam mir vor, dass sie nicht über Menschen sprachen, sondern über ungewolltes Ungeziefer, das im Meer versunken ist.

Aktivisten liegen in weiße Tücher gewickelt vor einem Schild, auf dem steht "Europas Grenzen töten"

APA/EPA/BERND¦VON¦JUTRCZENKA

AktivistInnen vor dem deutschen Bundeskanzleramt

Ich konnte meinen Ohren nicht glauben. Unsere Mitbürger können die Tragödie der Schulklasse, die in den Alpen gekracht ist, nachvollziehen, aber das Ertrinken von den Kindern, die sich im unteren Deck des Bootes befanden ist anscheinend keine Tragödie. Ich dachte mir: Wie hat sich die menschliche Moral verändert, um so über andere menschliche Wesen zu denken? Wo ist das menschliche Gewissen verschwunden?

Die Menschen auf dieser Welt sind eindeutig geteilt worden, in eine erste und eine zweite Klasse. Sogar in meinem Heimatland Bulgarien, wo wir sehr lange zu der „zweiten Klasse“ gehört haben, gibt es viele Befürworter dieser Theorie. Viele populistische Parteien im Parlament bestehen auf das Bauen einer unüberwindlichen Mauer an der bulgarisch-türkischen Grenze. An der gleichen Stelle, wo die Narben des eiserenen Vorhangs verlaufen, sollen noch viel höhere Zäune gebaut werden.

Die einstige Ideologie zeichnete als Feindbild furchterregende Diversanten, feindliche Agenten mit Messern in den Händen, die über die Grenze wollten, um die Leistungen des Sozialismus zu zerstören. Die heutige Propaganda zeichnet das Bild der unmenschlichen hungrigen Horden, die kommen, um uns das wenige Brot, das uns übrig geblieben ist, aus den Händen zu reißen.

Deshalb baut man neue Mauern. Meinen Eltern wurde nicht erlaubt, ihr Geburtsland zu verlassen. Jetzt soll die neue Mauer sie vor den bösen Migranten beschützen. Es werden immer mehr Fälle über bulgarische Grenzpolizisten bekannt, die gefangene illegale Migranten foltern. Nur vor einigen Jahren brauchten die Bulgaren Visen, um ins Ausland zu kommen. Heute ist das schon vergessen. Denn jetzt sind wir Europäer.

Die Zäune, die man an den Grenzen baut, die Hubschrauber, die das Meer kontrollieren oder das Zerstören der Boote der Schlepper werden nur den Preis der Überfahrt erhöhen. Wenn jetzt ein Flüchtling 2000 Dollar zahlt, um auf einem Schiffswrack das Mittelmeer zu passieren, wird er danach 5000 zahlen müssen. Das Risiko wird höher. Die Menschen auf diesen Booten zahlen mit ihrem Leben für ihr Streben nach Freiheit, ob wirtschaftliche, politische oder moralische. Eine Freiheit, die in Europa angeblich eine Defizitware ist.