Erstellt am: 20. 4. 2015 - 15:55 Uhr
"Betroffenheit rettet kein einziges Menschenleben"
950 Menschen sind gestern im Mittelmeer ertrunken, 400 weitere nur ein paar Tage zuvor. Die Zahlen werden immer unfassbarer.
Nach dem Schock vom Wochenende vernetzten sich jetzt in ganz Europa und auch in Österreich NGOs, PolitikerInnen und AktivistInnen. Sie sagen: Es muss sich was ändern, damit diese Tragödien verhindert werden. In Österreich rufen alle Hilfs- und Menschenrechts-Organisationen zu einer Mahnwache am Minoritenplatz in Wien auf.
Eine der Initiatoren der Mahnwache ist die Caritas. In der Wiener Caritaszentrale laufen alle Fäden zusammen, dort wird die Kundgebung und Gedenkveranstaltung heute Abend um 18 Uhr organisiert. Seit dem Wochenende klingeln dort unaufhörlich die Telefone. Auch bei Geschäftsführer Klaus Schwertner. Wir haben ihn über Skype erreicht.
Esther Csapo: Ihr Handy ist gerade aus, wie ich höre, weil es sonst ununterbrochen klingeln würde, oder?
Caritas
Es ist unglaublich, was sich seit gestern in der Früh abspielt, wie groß die Solidarität in Österreich ist, wie viele Menschen hier nicht schweigen wollen. Es muss aber auch Platz bleiben, um hier zu trauern. 700 Frauen, Männer und Kinder sind gestorben - und das sind nur die Zahlen von vergangenem Wochenende - wenige Tage davor waren es 400 Frauen, Männer und Kinder, die im Mittelmeer gestorben sind. Das passiert alles vor der Festung Europa, direkt vor unserer Haustür quasi, weil Lampedusa - und das ist mir wichtig zu betonen - oder Sizilien, grenzt in einem zusammenwachsenden Europa auch an Österreich, an alle europäischen Länder. Wir haben hier Verantwortung. Wir dürfen hier nicht schweigen, und ich bin sehr froh, dass viele andere Menschen in Österreich das auch so sehen.
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Was haben Sie sich persönlich gedacht, als Sie diese Nachricht von dieser Tragödie erreicht hat?
Ich bin gestern in der Früh, so wie oft am Sonntag, mit meinen Kindern beim Frühstück gesessen und habe mir gedacht: Das gibt es nicht. Das darf einfach nicht wahr sein. Das ist nicht mehr zum Aushalten. Hier muss man etwas tun. Es hat mich traurig gemacht. Es hat mich wütend gemacht.
Eines ist klar. Betroffenheit wird kein einziges Menschenleben retten. Betroffenheit haben wir alle derzeit, aber wir brauchen jetzt schnell Taten und keine Worte.
Sie haben gesagt, es soll was passieren. Was ist da von Ihrer Seite aus konkret geplant?
Zuallererst würde ich mir wünschen und wäre ich sehr froh, wenn viele zur Gedenkkundgebung kommen würden - mittlerweile stehen wir bei 3.000 Anmeldungen - es hat gerade vorher der Bundespräsident zugesagt, der Bundeskanzler ist auch da. Eines ist aber auch klar: Es wird dort keine Politveranstaltung geben. Es ist eine Veranstaltung der Zivilgesellschaft. Der einzige Vertreter der Politik, der dort sprechen wird, wird der Bundespräsident als Staatsoberhaupt sein. Es wird ein Flüchtling reden, wahrscheinlich ein Flüchtling, der auch übers Mittelmeer geflüchtet ist, der auf so einem Schiff war. Es wird Elias Bierdel dort sein, der im Mittelmeer selbst Menschen auf der Flucht gerettet hat. Und wir werden auf jeden Fall mit einer Gedenkminute starten, weil es darum geht, auch zu trauern.
Mahnwache am Minoritenplatz
Klaus Schwertner: Ich würde mir wünschen, dass sich möglichste viele Menschen Zeit nehmen. Es ist eine Stunde heute Montag, von 18 bis 19 Uhr, wo wir der Toten gedenken werden, aber wo wir vor allem auch - und das ist ganz klar - an unsere Verantwortung, aber auch an die Verantwortung der Europäischen Union und aller Nationalstaaten erinnern werden.
Dieser Schock, von dem jetzt EU-VertreterInnen und PolitikerInnen reden, da denken sich viele: Das passiert doch jetzt schon jahrelang. Offenbar gibt es erst ein Aufwachen, wenn mehr als 950 Menschen ertrinken. Macht Sie das wütend?
Unsere Forderung an die Politik liegt auf der Hand. Wir brauchen Mare Nostrum 2.0. Was heißt das? Wir brauchen Rettungsboote, und das ist eine Frage des politischen Wollens, nicht des Könnens. Italien musste diese Rettungsflotte, diese Rettungsinitiative aus finanziellen Gründen einstellen. Wir wünschen uns, dass alle Nationalstaaten, alle Mitgliedsstaaten der EU hier mitzahlen. Es sind keine großen Summen, um die es hier geht, wenn man sie mit anderen Dingen vergleicht. Wenn ich mir denke, wie viel für die Rettung von Banken zur Verfügung steht - hier geht es um Menschenleben.
Ich würde mir wünschen, dass es Mittel für die Rettung von Menschenleben gibt, das wäre eine erste Sofortmaßnahme, die auch sofort wirken würde. Bei Mare Nostrum 1 hat man ganz klar gesehen, es sind weniger Menschen ertrunken, es konnten mehr gerettet werden. Jetzt wird nur noch vor der Grenze Italiens patrouilliert, vor allem um eine Grenzabwehr zu machen, um die Festung Europa aufzurüsten. Wir wünschen uns Rettungsboote, im gesamten Mittelmeer.
In wenigen Wochen werden die Sommerferien beginnen und viele Europäer und viele Europäerinnen werden ans Mittelmeer fahren, um dort baden zu gehen und ihren Urlaub verbringen. Wir müssen uns schon fragen, ob wir in Zukunft in einem Massenfriedhof, in einem Massengrab baden wollen. Wir müssen das jetzt stoppen, und das ist eine Sofortmaßnahme.
APA/EPA/Opielok Offshore Carriers
Sie haben gesagt, Österreich ist da mitverantwortlich, denn es sind nicht nur die Grenzen Italiens, sondern durch die EU auch Österreichs Außengrenze. Was müsste man in Österreich tun?
Aus meiner Sicht läuft die Diskussion gestern/heute in Österreich sehr seltsam und genau so, wie wir es in den letzten Jahren kennen: Es wird weiter diskutiert, wie die Außengrenzen noch höher gerüstet werden, wie kann der Stacheldrahtzaun noch um eineinhalb Meter höher gemacht werden und es wird nicht darüber diskutiert: Wie können wir Menschen retten? Worum geht es? Und da bitte ich nicht um Schnellschüsse. Hier braucht es ein Gesamtkonzept, und zwar ein europäisches Gesamtkonzept. Da wird Österreich sich einbringen können und eine Vorreiterrolle übernehmen.
Es braucht einen legalen Zugang, um dem Recht auf Asyl nachkommen zu können: Es gibt auf der einen Seite die Genfer Flüchtlingskonvention, auf der anderen Seite ist es nicht möglich, legal nach Europa zu kommen und Asyl zu beantragen.
Die Caritas und andere Organisationen haben im Rahmen der Aktion "Gegen Unrecht - Stoppen wir das Massensterben im Mittelmeer!" auch eine Online-Petition ins Leben gerufen. Darin wird von der österreichischen Bundesregierung gefordert, sich innerhalb der EU für eine menschliche Politik im Umgang mit schutzsuchenden Menschen einzusetzen
Gestern ist mir aufgefallen: Es werden jetzt wieder einmal die Schlepper als die Bösen dargestellt. Aber ganz klar ist: Ohne die Schlepper wäre es Schutz suchenden Menschen, Schutz suchenden Familein aus Syrien, aus Afrika gar nicht möglich, nach Europa zu kommen. Also hier wird ein System aufgebaut und dann sagt man: Schlepper sind die Bösen. Ich glaube das nur zum Teil. Ich sage auch ganz klar: Wenn Menschen und die Not von Menschen ausgebeutet werden, damit Geschäft gemacht wird, dann verurteilen wir das von der Caritas auch. Aber man darf sich nicht wundern, dass Menschen in einer äußerst dramatischen Situation versuchen, in ein anderes Land zu kommen.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, es sind insgesamt derzeit weltweit 50 Millionen Menschen auf der Flucht, aber niemand weiß aber, wie viele nach Europa kommen. Ich habe mir das gestern angeschaut: 570.000 Menschen haben letztes Jahr in ganz Europa Asyl beantragt. Das sind etwas mehr als 1%.
In der öffentlichen Debatte wird ganz oft so getan, als wär das ein Riesenthema, aber wenn man sich die Zahlen anschaut, ist diese Aufgabe leicht bewältigbar, wenn man sie bewältigen will.