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Sophie Strohmeier Philadelphia

Film, Film, Film

18. 4. 2015 - 13:10

Dystopia Noir

Das Gartenbaukino zeigt zweierlei Versionen des ewig faszinierenden Kultfilms Blade Runner.

Blade Runner ist die Essenz des Kultfilms; man könnte ja fast meinen, den Kultfilm gäbe es überhaupt erst seit Blade Runner. Basierend auf dem Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? des legendären sci-fi-dystopien Autors Philip K. Dick, war Blade Runner für Regisseur Ridley Scott das Folgeprojekt nach seinem Hit Alien (1979).

Urbane Landschaft in Blade Runner

Warner Bros.

Die ganze Welt ist eine Stadt: Los Angeles in Blade Runner

Zur Zeit seiner Erscheinung sowohl bei Publikum als auch Kritikern ein Flop, entwickelte Blade Runner eine stetig wachsende Kultur von Aficionados und Fans, unterstützt durch die gerade entstehende VHS-Generation (die Vorstellung von Plastikkassetten und Tape-Spulen allein hat für unser auf DVD, Blu-ray und BitTorrent fokussiertes Zeitalter mittlerweile auch schon einen Hauch von Cyberpunk), weitergelebt durch Fanzeitschriften und Mitternachtsvorführungen, die auch noch heute regelmäßig genossen werden. Blade Runner nimmt also auch in der Geschichte des Fan-Seins einen hohen Stellenwert ein.
Gemeinsam mit 2001 – A Space Odyssey gehört Blade Runner zu jenen hochwertigen, hochallegorischen Science-Fiction Filmen, die für eine breite Masse sowohl filmischen Genuss, phantastischen Reiz, als auch philosophische Auseinandersetzung bedeuten.

Im Gartenbaukino leuchtet dieser legendäre Film nun abermals auf, und zwar gleich in zwei Fassungen: der Original Version, jene 1982 erstmals gezeigte Fassung, und – endlich! – in der Final Cut Version, die zuletzt bei der Viennale 2007 über die Leinwand des Gartenbaukinos flackerte. Seither ist diese Version, die zwar seit 2007 auf DVD erhältlich ist, nicht im Kino zu sehen gewesen.

Los Angeles, 2019 – how can it not know what it is?

Harrison Ford als Deckard beim Nudelsuppenessen

Warner Bros.

Rick Deckard (Harrison Ford), Enkel der deftigen Detektive der 1940er Jahre

Eine Metropole, so weit das Auge reicht. Gebäude türmen sich vertikal in den schwarzen Himmel, es herrscht ewige Nacht, giftiger Regen und eine Flut an leuchtenden Reklamen und Logos. Off-World Kolonien werden über Lautsprecher angepriesen. Und genau zwecks der Besiedlung dieser fremden Welten wurden Geschöpfe hergestellt, sogenannte Replikanten, die von Menschen praktisch nicht zu unterscheiden sind - außer mit dem komplizierten Voight-Kampff-Test, der emotionale Reaktionen überprüft.
Ex-Polizist Deckard (Harrison Ford), ein sogenannter Blade Runner, soll vier rebellische Replikanten, die sich verbotenerweise auf der Erde befinden, aufspüren und töten. Deren Anführer ist der tödliche und charismatische Roy (Rutger Hauer), begleitet wird er zum Beispiel von den ebenso tödlichen wie charismatischen Replikanten Zhora (Joanna Cassidy) und Pris (Daryl Hannah).

Rachael (Sean Young) in Blade Runner

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Ausgestattet mit den Erinnerungen eines Menschen: Rachael (Sean Young)

Die Replikanten verfolgen ein eigenes Ziel: sie wollen ihre auf vier Jahre begrenzte Lebenszeit verlängern; ihr Lebenshunger kann vom Zuschauer als Bewusstsein und Menschlichkeit interpretiert werden. Im Laufe des Films trifft Deckard auf die Replikantin Rachael (Sean Young), die über künstliche Erinnerungen verfügt und daher nicht einmal weiß, dass sie kein Mensch ist; Rachaels Erscheinung lässt Deckard an seiner eigenen Wahrnehmung und seinem Verständnis des Menschlichen zweifeln.

"More human than human"

Rutger Hauer als Roy Batty in Blade Runner

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Rutger Hauer als Roy Batty. Wie bei der Betrachung von Roys Händen zu bemerken ist, handelt es sich bei "Blade Runner" um eine ikonographische Goldgrube

Vielleicht einer der unwiderstehlichsten Aspekte Blade Runners ist Rutger Hauers Darstellung des Roy und seine seltsame Dynamik mit Harrison Fords Deckard. Deckard ist Detektiv und ein Archetypus, Roy ein schelmischer, getriebener Replikant. So furchterregend er auch sein mag, so sehr bildet er einen poetischen Gegenspieler. Die Worte, die aus ihm kommen, sind umwerfend; praktisch schon Gedichte (angeblich teils von Rutger Hauer improvisiert).

I've seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhäuser gate. All those moments will be lost in time... like tears in rain...

Ein Genre-Kreierender Genre-Film

Dass Blade Runner Science Fiction ist, steht außer Frage. Maschinen wie jene, die den Voight-Kampff-Test durchführt, erhalten eine Erläuterung. Die Replikanten und ihre Bestandteile, sogar ihre Erschaffung, werden von Figuren wissenschaftlich erklärt; so tragen Roy und Pris z.B. die Gene ihres persönlichen Frankensteins, des zarten Spielzeugmachers und Replikanten-Designers Sebastian: "There’s some of me in you", sagt der zu seinen Schöpfungen.

Pris besucht ihren Designer in Blade Runner

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Besuch beim Spielzeugmacher: Pris (Daryl Hannah) und J.F. Sebastian (William Sanderson); Gedanken an Pinocchio sind unvermeidbar

Eine weitere, unübersehbare Komponente, die in der Gestaltung von Blade Runner zum Ausdruck kommt, ist die des Film noir. Der Plot, der weder einen eindeutigen Bogen hat noch ein klares Ziel verfolgt, ähnelt dem eines Raymond Chandler Romans, ebenso wie die Hauptfiguren, die wie Variationen einer alten Melodie wirken: Deckard als der hardboiled Detektiv, Rachael als Femme fatale; ihre erste Begegnung erinnert beinahe an Double Indemnity (1944).

À propos Franchise: Blade Runner erhält jetzt auch ein Sequel! Ridley Scott führt diesmal nicht Regie, aber dafür ist Ryan Gosling angeblich an Bord.

Warner Bros.

Gassen von L.A., 2019.

Die besondere Kost des Blade Runner-Science Fiction gab aber Anlass zu einer eigenen, neuen Sub-Gattung, die schon die Achtziger-Jahre mitformte: dem Cyberpunk. Diese vereint Grind, Abschaum und Urbanität mit Computer-Technologie-Entwürfen. Berühmte Beispiele sind der RoboCop-Franchise (1987-2014) und die Matrix-Trilogy (1999-2003).

Design einer Dystopie

Eine der unschlagbarsten Trümpfe Blade Runners und damit wahrscheinlich auch die Ursache seines Kultstatus ist sein Design, welches dem Künstler Syd Mead zu verdanken ist. Bis in das kleinste Detail ist die Ausstattung durchdacht; Blade Runner zu sehen heißt vor allem, in eine reiche, überschäumende, apokalyptische und albtraumhaft klaustrophobische Welt einzutauchen. Das Auge folgt fliegenden Transportmitteln und sich windenden Treppen. Als besonderer Einfluss für diese geballte Stimmung wird oft die französische Zeitschrift Metal Hurlant sowie Comiczeichner Jean Giraud aka Moebius zitiert, der später an The Fifth Element (1995) mitarbeitete.

Edward Hoppers berühmtes Bargemälde Nighthawks

Public Domain

"Nighthawks", 1942 - was ist schon der moderne Mensch, wenn er kein Roboter ist?

Ausschlaggebend soll auch Edward Hoppers berühmtes Gemälde Nighthawks (1942) mit seiner Darstellung der existentialistischen Einsamkeit in der modernen Großstadt gewesen sein. Deckard selbst, wie eine Gestalt aus dem Gemälde, trägt einen Trench-Coat und gleicht damit einem Philip Marlowe oder Sam Spade.

Futuristischer Wolkenkratzer in Metropolis

Kino Video

Futuristischer urbaner Raum in Fritz Langs "Metropolis" (1927)

Während die gewaltige, feuerspeiende urbane Landschaft mit ihren Wolkenkratzern Fritz Langs futuristisches Metropolis (1927) aufruft, sind die finsteren, dampfenden Straßen spärlich von Neonaufschriften erleuchtet. In den Innenräumen drehen sich Deckenventilatoren so, wie sie es nur in einem Neo-Noir tun würden, und das Licht wirft gespaltene Streifen durch klassische Jalousien.

Welche Version ist überhaupt die richtige?

Zur Zeit ihres Erscheinens muss diese gesammelte Phantasmagorie wohl schwer verdaulich gewesen sein. Ungefähr so schwer wie ihre Geburt: nach ewigem produktionstechnischen Hin und Her herrschte während der Dreharbeiten permanent Krisenstimmung zwischen der Crew und Regisseur Ridley Scott (man google beispielsweise The Blade Runner T-Shirt War), und besonders Harrison Ford soll zu jener Zeit den Regisseur wirklich schwer ausgehalten haben – und vice versa.
Wie eine Art schlechtes Omen erlag wenige Monate vor Starttermin Philip K. Dick, der erst Missfallen und dann Gefallen an dem gesamten Projekt ausgedrückt hatte, einem Schlaganfall. Zudem lief Blade Runner in einer umstrittenen Schnittfassung an, mit der Ridley Scott und Harrison Ford unglücklich waren: hier dominierten Voice Over und ein glücklicheres Ende.

Ridley Scott und Harrison Ford bei den Dreharbeiten zu Blade Runner

Photographer Unknown

Scott und Ford in einer ziemlich unbequem anmutenden Haltung bei den Dreharbeiten zur Schlusssequenz von Blade Runner

Nach Filmstart wussten Kritikergiganten wie Rogert Ebert und Pauline Kael nicht genau, was mit dem Film anzufangen war. Am schlimmsten aber: das Publikum blieb im Kinosommer 1982 vorerst aus (1982 war auch der Sommer von John Carpenters The Thing und Conan der Barbar) . Erst im Laufe der 80er-Jahre entwickelte Blade Runner seine unglaubliche Popularität, die sich immer noch zu steigern scheint.

1992 kam es dann zu einer sogenannten Director’s Cut-Version, die das meiste von dem wieder nivellierte, was Ridley Scott missfiel; vor allem aber gab diese Version erstmals ein Indiz, Deckard sei selbst ein Replikant – eine Information, die den Film grundlegend verändert.
Allerdings ist erst die 2007 erschienene Final Cut-Version schließlich jene, die tatsächlich den Vorstellungen des Regisseurs entspricht, der bei dieser Version das letzte Wort hatte.

Ab 17.April laufen Blade Runners Originalversion und der Final Cut im Wiener Gartenbaukino.

Insgesamt gibt es an die sieben verschiedenen Versionen von Blade Runner, und gewiss tragen diese zum Rätsel des Films bei. Der Film scheint nämlich damit, mehr als Extended- oder Special-Editions, eigentlich mehr als einen Film zu beherbergen. Außerdem ist die Einsicht schon fast atemberaubend, dass es die Filmkunst vermag, mit nur wenigen Einstellungen und Schnitten – in diesem Fall: Aufnahmen eines durch einen Wald laufenden Einhorns – eine Aussage so komplett zu verändern, dass sie eigentlich auf den Kopf gestellt wird.