Erstellt am: 14. 4. 2015 - 21:09 Uhr
Percy Sledge, 1940-2015
Ich hab's ja fast schon aufgegeben, hier Nachrufe zu veröffentlichen. Michael Brown, Daevid Allen, John Renbourn, eine_r nach dem anderen gehen sie von uns, wo fangen wir an, wo hören wir auf? Percy Sledge hatte nur eine Handvoll Hits, aber der erste davon – der allererste Song, den er überhaupt je aufgenommen hatte – war und bleibt einer der wichtigsten der Welt.
Um es mit dem Vorwort des wichtigsten Buchs der Welt, Peter Guralnicks „Sweet Soul Music“, zu sagen: „Als Percy Sledges 'When a Man Loves a Woman', ein pures Beispiel für emotionalen Southern Soul par excellence, im Jahr 1966 die Spitze der Pop-Charts erreichte, schien es fast so, als wäre der Gipfel des Bergs erklommen. Hier war ein Song, der nicht von Konzessionen an den Markt kompromittiert war, dachte ich damals (viele dachten das damals), ungebleicht und unbeschädigt von den Blässekuren, denen sich Motown immer unterzog, ein Ausdruck romantischer Großmut und schwarzer Solidarität (dachte ich wieder). Ich mochte den Song nicht einmal so gern, aber ich verstand ihn als den Verkünder eines neuen Tages, da ein Massenpublikum seinen Zugang zu einer schwarzen Populärkultur finden würde, die ihren eigenen Maßstäben entspricht.“
Guralnick veröffentlichte diese Worte 1986, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „When a Man Loves a Woman“, aber die in den Beisätzen („dachte ich damals“) durchklingende Desillusionierung ist heute, fast dreißig Jahre später immer noch angebracht.
Ein großer Teil des Buchs „Sweet Soul Music“ beschäftigt sich damit, dass Soul zwar immer als die Manifestation einer originär afrikanisch-amerikanischen Kultur verkauft und rezipiert, tatsächlich aber von Anfang an mit Augenmerk auf den mehrheitlich weißen amerikanischen Plattenmarkt produziert wurde.
Und zwar in nicht immer reibungsloser, aber enorm fruchtbarer Kollaboration von Menschen verschiedener Hautfarben, gerade im Süden der USA, wo zu jener Zeit noch strenge Rassensegregation herrschte.
Insofern war die Tatsache, dass Percy Sledge als erster ganz oben auf dem Berg der weißen Pop-Charts stand, und das mitten in der Weißbrot-Revolution der British Invasion, tatsächlich von mindestens so großer Bedeutung wie die Musik selbst.
Dass diese wiederum derart überirdisch großartig ist, dass einem bei jedem Mal Hören ein neuer Frosch aus der Magengrube in den Hals hinauf klettert, ist dann schon ein ausreichender Grund zur Dankbarkeit dafür, im ansonsten ja eigentlich grausamsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte geboren zu sein.
Trotzdem sind Guralnicks damalige musikalische Bedenken verständlich, denn einer der kommerziellen Trümpfe von „When a Man Loves a Woman“ war ja, dass der Song im Vergleich zum Cutting Edge Pop des Jahres '66 altvaterisch genug klang, um die Generationen zu vereinen: Kein cooler, smarter moderner Soul Groover, sondern ein feierlicher Walzer für Dorfdiskotheken, getragen von Saccharin-bittersüßen Farfisa-Orgelakkorden. Und die Terzen, die Gitarrist Marlin Greene über die Middle Eight legte, hätten genauso gut zehn Jahre davor von Scotty Moore gespielt worden sein können.

Robert Rotifer
Noch zwanzig Jahre später, als Guralnick sein Buch veröffentlichte und ich selber noch ein junger Sixties-Enthusiast war, fand ich den Song aus ebendiesen Gründen genauso unwiderstehlich (diese tiefe Furchen durch alle Zeiten und Welten schneidende Stimme!) wie grenzpeinlich (diese für 1966 unfassbar anachronistische Schmalztolle!). Aber immerhin gehörte Percy Sledge zum großen Katalog des Atlantic-Labels, so wie meine damaligen Soul-Heroen Otis Redding, Eddie Floyd, Wilson Pickett, Sam & Dave, Aretha Franklin, Don Covay und und und, also gab ich ihm eine Chance und kaufte irgendwo eine billige, alte Compilation-LP. Da war auf der B-Seite, gleich nach „When a Man Loves a Woman“ ein noch eindeutiger jenseits aller Parameter der Coolness liegender Song drauf, der mich trotzdem nicht mehr los ließ.
Dieser pralle Schmalztopf von einer Nummer hieß „My Special Prayer“ und roch schon von weitem her nach vergilbter Vorstadt-Jukebox.
„When the choir sang Ave Maria I was singing with all of my heart“, sang da Percy, und die Chorsängerinnen stimmten mit ein. Und da waren auch wieder die schnulzigen Gitarrenterzen. Das Erstaunliche an diesem scheinbar so harmlosen Song war, wie viel näher er an der Welt des Country als an der Welt des Soul lag.
"My Special Prayer" klingt heute noch wie die beinahe beiläufige Vollendung des 1966 mit Sledges erstem Welthit begonnenen Traums: Wenn ein Soul-Song wie "When a Man…" die weißen Massen erreichen, und wenn Country-Buben wie die Everly Brothers zur gleichen Zeit Alben wie „Rock'n Soul“ und „Beat & Soul“ veröffentlichen konnten, dann konnte sich Percy Sledge in seinem Cover dieses Songs von Wini Scott auch die Ästhetik weißer Country-Musik aneignen.
Gerade er, der bei einem seiner Auftritte im Süden, wie er sich später erinnerte, vom MC als „that gap-toothed nigger“ angekündigt wurde. Das war die transformative Macht des Pop.
"My Special Prayer" erschien 1969, im Jahr 1 nach dem Mord an Martin Luther King, auf Atlantic Records. Demselben Jahr also, als Ahmet Ertegün, der aus einer türkischen Familie stammende Chef des Labels, die britische weiße Rockband Led Zeppelin unter Vertrag nahm.
Die Soul/Rock-Crossover Band Sly and the Family Stone veröffentlichte 1969 wiederum ihr Album „Stand!“ mit einem Song namens „Don't Call Me Nigger, Whitey“ (samt der Antwortzeile „Don't call me whitey, nigger!“) drauf.
In anderen Worten: Dies war der eine kurze Moment der Popgeschichte, als es so ausgesehen haben muss, als wären die Rassenschranken wenigstens in der utopischen Welt der Musik morgen schon verschwunden - in den radikalsten Ausläufern des Pops der Metropolen ebenso wie in den vergilbten Jukeboxes der Provinzen. Ein knappes halbes Jahrhundert später kann davon immer noch keine Rede sein.
Percy Sledge machte keine Avantgarde. Er kam nicht aus der Art School wie die britischen Rock'n'Roller. Er hatte auf den Baumwollfeldern und am Bau, dann als Krankenpfleger im Colbert County Hospital gearbeitet, als er eines Abends im Jahr 1965 bei einem Gig im Elks Club in Sheffield, Alabama, von einem Radio-DJ und Plattengeschäftbesitzer namens Quin Ivy, dem Spross einer weißen Farmer-Familie, entdeckt wurde.
Nachdem Rick Hall in seinen FAME Studios keine Zeit für Sledge übrig hatte, steckte Ivy ihn gemeinsam mit dem Keyboarder Spooner Oldham, erwähntem Marlin Greene und Schlagzeuger Roger Hawkins in sein eigenes, rudimentäres Norala Studio, das aus der Mischkonsole eines Radiostudios und zwei Mono-Bandmaschinen bestand (Guralnick behauptet, es war das Quinvy Studio, aber nach anderen Informationen hieß erst Quin Ivys zweites Studio so, eigentlich egal).
Die Band soll den ganzen Herbst 1965 an "When a Man Loves a Woman" gefeilt haben, bis endlich die fertige Version saß. „Später nahmen sie Overdubs mit Stimmen und Bläsern auf“, schreibt Guralnick, „drei Bläser aus der Nachbarschaft, die völlig verstimmt waren, was aber okay ging, weil auch Percy völlig falsch sang.“
Guralnick zitiert den Tontechniker Jimmy Johnson, der die Session aufnahm: „Percy sang so falsch, dass wir Angst hatten, seine Stimme könnte ein Fenster zerbrechen. Es tat fast schon weh.“
Rick Hall empfahl Jerry Wexler von Atlantic Records den Song weiter, der ließ die Bläsersätze noch einmal von den bewährten Memphis Horns aus den Stax Studios einspielen und verwendete dann erst recht die Original-Aufnahme. Eine Lektion für die Generation Autotune vielleicht.
Wer einen Beweis dafür braucht, welche Rolle Sound (nicht „guter“, nicht „richtiger“ Sound, sondern glaubhafter, fesselnder Sound) im Pop spielt, kann sich im Vergleich zu Percy Sledges Version ja einmal die von Michael Bolton anhören.
Percy Sledge jedenfalls ließ sich nach seiner erfolgreichen ersten Tour wegen „Erschöpfung“ in jenes Spital einweisen, wo er selbst gearbeitet hatte. Er legte sich ins teuerste Bett der Anstalt und ließ sich dort wochenlang pflegen. Eine schöne Geschichte.
Heute, am 14.4. 2015 ist Percy Sledge im Alter von 74 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Er ruhe in Frieden.