Erstellt am: 11. 4. 2015 - 11:11 Uhr
Leben auf See retten
2014 sind laut UNHCR 218.000 Menschen übers Mittelmeer nach Europa geflohen, 3.500 starben dabei. 2015 sind bis Anfang März bereits 450 Flüchtlinge im Mittelmeer umgekommen oder gelten als vermisst.
Im letzten Herbst, in Deutschland wird der 25. Jahrestag des Mauerfalls begangen, wird einer Gruppe von Freundinnen und Freunden aus Brandenburg eine grobe Unstimmigkeit bewusst, erzählt Matthias: „Dass da auch nach 25 Jahren der Abriss einer Grenze gefeiert wird, während ein ähnliches Grenzregime ein paar Hundert Kilometer weiter an den europäischen Außengrenzen errichtet wird – allein im letzten Jahr sind an diesen europäischen Grenzen mehr Menschen gestorben als in 27 Jahren Mauer – und diese Diskrepanz der Wahrnehmung, die es gerade in Deutschland gibt, die hat uns dazu bewogen zu sagen: Okay, wir wollen was machen, was Praktisches“.
Anders als beim italienischen Programm „Mare Nostrum“ sind Boote von "Triton" nicht bis in libysche Gewässer, sondern nur vor der Küste Italiens unterwegs. Sie sollen die Grenzen überwachen und gegen Schlepper vorgehen, aber nicht aktiv nach Flüchtlingen suchen. Da Frontex über keine eigenen Schiffe verfügt, stellen 21 EU-Staaten Material und Personal bereit.
Fast gleichzeitig zu den Feierlichkeiten in Deutschland geht das italienische Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ zu Ende. Ein Jahr wurde aktiv nach Flüchtlingen in Seenot gesucht und Rettungsmaßnahmen eingeleitet, über 100.000 Menschen konnten so in Sicherheit gebracht werden. Italiens Appell an andere EU-Länder, die Aktion finanziell zu unterstützen, wurde nicht nachgekommen, stattdessen wurde das Programm „Triton“ implementiert, ein Grenzsicherungsprogramm unter dem Dach der Grenzschutzorganisation Frontex.
Nun, knapp ein halbes Jahr später hat der Freundeskreis die private Rettungsinitiative Sea-Watch gestartet, demnächst läuft ihr Rettungsschiff aus, um im Mittelmeer Flüchtlingen in Seenot zu helfen.
Sea-Watch
MS Sea-Watch wurde das Rettungsschiff kurz vor Ostern getauft. Ein alter Fischkutter, für den die InitiatorInnen zusammengelegt haben und den Freiwillige aus dem immer größer werdenden Kreis an UnterstützerInnen zu einem hochseetauglichen Schiff mit Satellitentelefon umgebaut haben. Ehrenamtlich arbeiten auch jene SpezialistInnen, die ab Juni mit der MS Sea-Watch loslegen werden.
Zwischen sechs und acht Besatzungsmitglieder werden unterwegs sein, erzählt Matthias. „Die Routen, auf denen die Flüchtlingsboote nach Italien kommen, die sind relativ eng abgesteckt, die sind bekannt. Und wir werden dort in dieses Gebiet fahren, relativ nah vor der libyschen Küste, wo sonst kein Schiffsverkehr langgeht, dort werden wir Ausschau halten.“ Das Team arbeitet außerdem mit Watch The Med zusammen, will Notrufen nachgehen, die beim Alarmtelefon der Organisation eingehen.
Wird ein Boot in Seenot gesichtet, alarmiert die Sea-Watch Crew via Satellitentelefon die Küstenwache, damit die einen professionellen Rettungseinsatz starten kann. Für den Ernstfall hat die MS Sea-Watch eine Rettungsinsel an Bord, vor allem geht es aber darum, Flüchtlingsboote zu orten, wenn nötig Hilfe zu holen, die Menschen in den Booten mit dem Notwendigsten auszurüsten: „Wir verteilen Rettungswesten, dass die für den Fall des Kenterns erstmal gesichert sind. Die meisten können nicht schwimmen. Die wagen sich auf einem kleinen Schlauchboot aufs Meer raus, und können nicht schwimmen. Dann verteilen wir Trinkwasser, denn letztes Jahr sind, glaube ich, mehr Leute verdurstet als ertrunken.“
APA/EPA/GIUSEPPE LAMI
Schlechte Stimmung in Malta
„Bei unserer letzten Operation im vergangenen Jahr haben wir in 60 Tagen 3.000 Menschen gerettet. Wir hoffen, dass wir dieses Jahr in sechs Monaten zusammen mit MSF noch mehr Erfolg haben werden“, so MOAS-Direktor Martin Xuereb bei der Bekanntgabe der Kooperation mit Ärzte ohne Grenzen, siehe orf.at
In Malta wird die MS Sea-Watch einen Ankerplatz haben, Mit-Initiator Harald hat ihn dieser Tage vor Ort reserviert, hat den österlichen Familienurlaub auf Sizilien für einen dreitägigen Abstecher zum Inselstaat genutzt. In Malta hat Harald VertreterInnen der Migrant Offshore Aid Station, kurz MOAS zum Erfahrungsaustausch getroffen. Auch MOAS ist eine private, auf Spenden basierende Initiative. Von einem maltesischen Unternehmerpaar ins Leben gerufen und finanziert, ist seit letztem Jahr das professionelle Rettungsschiff Phoenix unterwegs, um das „Desaster auf See zu mildern“. Im Mai wird MOAS gemeinsam mit Ärzte ohne Grenzen den nächsten Hilfseinsatz beginnen.
Was ihn betrübt, erzählt Harald am Telefon, sei die Stimmung unter der maltesischen Bevölkerung. „Die fühlen sich alleine gelassen, im Stich gelassen von der EU; und wenn es ein Flüchtling schafft, nach Italien zu kommen, wird er immer wieder dorthin (nach Malta, Anm.) zurückgebracht. Es gibt auch den Vorwurf an MOAS und uns, immer mehr zu belasten, das ist nicht unser Anliegen, es geht uns darum, die Menschen zu retten. Was mit ihnen passiert, das ist eine Entscheidung, die von der EU getroffen werden muss. Etwa das Dublin-III-Abkommen, dass das eventuell in diesem Jahr auch mal überarbeitet werden muss. Und wenn das passiert, dann, denk ich mal, würden auch die Malteser dieser Sache offener gegenüber stehen und bereitwilliger helfen.“ Harald verweist auf einen Artikel einer maltesischen Zeitung, bei dem die Kommentare die Stimmung ganz gut abbilden.
Debatte über Flüchtlingspolitik
„Wir haben eine Debatte über Flüchtlingspolitik losgetreten, ohne dass ein Mensch gestorben ist“, das sei schon ein erster Erfolg von Sea-Watch, meint Harald, und auch ein Anspruch des Projekts: „Diese Politik kostet wöchentlich Menschenleben. Gerade die Europäische Union mit ihren hohen humanitären Ansprüchen kann und darf nicht auf so eine Art und Weise Politik machen, indem der Tod von Menschen in Kauf genommen wird.“
Sea-Watch basiert auf der Arbeit von Freiwilligen und ist auf Spenden angewiesen. Wer das Projekt unterstützen will, findet alle Infos auf seawatch.org
Kommende Woche soll die MS Sea-Watch von Hamburg aus Richtung Malta loslegen, am 1. Juni soll die erste Mission starten, den dreimonatigen Einsatz haben die InitiatorInnen finanziert, danach ist man auf weitere Spenden angewiesen. Harald wird mit an Bord sein. „Die Menschen, die sterben an der deutschen, der österreichischen oder an der französischen Außengrenze und das 2015! Das ist genau vor unserer Haustüre, da kann jeder hinfahren, da können sogar wir hinfahren – und wenn man das machen kann, dann ist es Pflicht, das zu machen.“