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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

8. 4. 2015 - 12:20

In sechs Tagen durch Europa

Das "Crossing Europe"-Festival zeigt tolles europäisches Kino in Linz. Der Versuch einer Programmvorschau.

Crossing Europe,
23. bis 28. April 2015, Linz.

Die Überforderung zeigt sich schon am Eröffnungstag. Aber keine Angst, sie wird sich in Wohlgefallen auflösen. Bereits am Nachmittag laufen die ersten Spielfilme der Programmschiene "European Panorama", und am Abend wird man die Auswahl von fünf Filmen zur Eröffnung haben: Das "Crossing Europe"-Filmfestival ist ein Paradies für alle, die hineinschauen wollen in dieses Europa - und mitunter weit darüber hinaus.

War im Vorjahr Scarlett Johanson als Alien in "Under the Skin" am Eröffnungsabend auf der Leinwand unterwegs, so hat diesmal mit „The Visit“ ein Aliendokumentarfilm (!) hierzulande Premiere, Prädikat: beim "Sundance Festival" uraufgeführt. Die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme von Menschen mit intelligentem außerirdischen Leben versucht der dänische Regisseur Michael Madsen Schritt für Schritt mit Theologen und Militärangehörigen, Regierungssprechern und Angestellten des Büros der Vereinten Nationen für Weltraumfragen durchzuspielen. "The Visit" ist neben den österreichischen Produktionen "Evdeki Ses - 22 m²" von Ufuk Serbest und "Auf der Suche nach Isolde" von Barbara Windtner einer der Eröffnungsfilme.

Filmstill aus "The Visit" von Michael Madsen: Ein Mann in Ganzkörperschutzanzug hält ein Plastiksackerl hoch

Heikki Faerm | Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

"The Visit" von Michael Madsen

Beim "Crossing Europe" 2011 gewann Michael Madsen den Hauptpreis in der Kategorie Doku für „Into Eternity“, einen Film über ein Endlager für radioaktive Abfälle in Finnland. Im Wettbewerb von "Crossing Europe" laufen Erst- und Zweitwerke von RegisseurInnen. Festivalintendantin Christine Dollhofer und ihr Team präsentieren zum zwölften Mal kritisches, umwerfendes und eindrucksvolles AutorInnenkino am Puls der Zeit.

Ausgangspunkt: Gegenwart

160 Filme aus 45 Ländern umfasst das "Crossing Europe" 2015. Einige Trends sind beim Studium des kompletten Programms vorab auszumachen.

Den Rückzug aufs Land treten da gleich die ProtagonistInnen sowohl eines Spiel- als auch eines Dokumentarfilms an. Eine Romantik der Freiheit von gesellschaftlichen Normen und freie Liebe locken junge BritInnen in "Hide And Seek" von Joanna Coates in ein Landhaus. Hart hingegen ist das in "Stále Spolu /Always Together" von Eva Tomanová dokumentierte Leben des Tschechen Petr, seiner Frau und ihrer gemeinsamen neun Kinder; die vermeintliche Idylle einer selbst gezimmerten Holzhütte ohne Strom und ohne Warmwasser.

Zehnköpfige Familie steht nebeneinander und sich umarmend vor ihrem Zuhause, einem Wohnmobil

Crossing Europe Festival

"Stále Spolu"

Coming-of-Age-Geschichten sind zwar Klassiker. Doch jene von modernen Seefahrern - also Matrosen - an Bord von Containerschiffen in "Lichtes Meer" von Stefan Butzmuhlen oder jene eines unangepassten Jugendlichen im Erziehungscamp in "Chrieg"von Simon Jaquemet warten mit ungewohnten Facetten auf.

Zwei junge Männer stehen nebeneinander und blicken auf das offene Meer

Crossing Europe Festival

"Lichtes Meer"

Die Finanzkrise eines Landes beschreibt Salomé Alexi in ihrem Langspielfilmdebüt "Kreditis Limiti". Auch Kristina Grozeva und Petar Valchanov verhandeln den Verlust von Geld und Ansehen in "Urok/The Lesson", im Festivalprogramm wird der Film als "sozialdarwinistische Gesellschaftsstudie in Form eines Thrillers" angekündigt. Die Dokumentarfilmerin Anastasia Miroshnichenko porträtiert hingegen in "Perekrestok" einen Straßenmaler, der seit 20 Jahren obdachlos lebt.

Filmstill aus "Kreditis Limitis": Eine Frau am Schalter iener kleinen Wechselstube

Crossing Europe Festival

Beim Pfandleiher: "Kreditis Limiti"

Flucht und Exildasein bestimmen sehr viele der Narrationen der Wettbewerbsbeiträge. So blickt Vladimir Tomic' zurück auf das "Flotel Europa", ein Schiff im Hafen von Kopenhagen, das ihm, seinen Geschwistern und seiner Mutter neben eintausend anderen Flüchtlingen Anfang der 1990er Jahre ein neues Zuhause gewesen war. Auch Iva Radivojevic verließ das damalige Jugoslawien, sie emigrierte nach Zypern. In den fünf Episoden in "Evaporating Borders" wird Asylpolitik dokumentiert.

"Nachtsicht" vulgo richtig schön gruseln

In den spätabendlichen Vorstellungen in den Festivalkinosälen bringt die Programmschiene "Nachtsicht" die Neigungsgruppe fantastischer Film mit Newbies zusammen. Es ist sehr angenehm, einen Genrefilm mit CineastInnen gemeinsam zu sehen. Regisseur Jonas Govaerts, der unter anderem zwei Serien gemacht hat, führt in seinem Langspielfilmdebüt "Welp" eine Gruppe Pfadfinder in den Wald. Das gestaltet sich dann so:

Bub, dessen Gesicht tierähnliche Züge angenommen hat, im Wald. Filmstill aus "Welp" von Jonas Govaerts

Kinology

"Welp" von Jonas Govaerts

Wem bereits die Beschreibungen etwa von "Amor Eterno" ("Carlos, einen alleinstehenden Sprachlehrer mittleren Alters, zieht es nach Dienstschluss immer wieder in einen kleinen Wald am Rand von Barcelona") oder "German Angst" ("Ein junges Mädchen, das nicht mit allen Lebewesen so fürsorglich umgeht wie mit ihren Meerschweinchen ...") gruselig erscheinen, der schließt im Kinosaal am besten die Augen. Um sie exakt in jenem Moment zu öffnen, wenn Sitznachbarn vor Amüsement kichern, während auf der Leinwand die Vorstellungskraft gesprengt wird. Danach will man unbedingt zur Nightline.

Viele Reisen in die Sowjetunion

Sergei Loznitsac

Atoms & Void

Sergej Loznitsa

Als besonderen Gast begrüßt das "Crossing Europe" Sergei Loznitsa. Ihm ist ein Tribute gewidmet, jeder seiner bis dato 18 Filme wird in Linz gezeigt, und Loznitsa wird am Festivalsamstag, 25. April, eine Master Class bei freiem Eintritt halten. Loznitsas Biografie liest sich wie bester Stoff für ein Drehbuch: in Weißrussland geboren, in Kiew Studium der Angewandten Mathematik und Arbeit am Institut für Kybernetik, in Moskau Ausbildung zum Filmemacher und in Deutschland schließlich nach mehreren Dokumentarfilmen Spielfilmregisseur.

Wie sich junge FilmemacherInnen Aufmerksamkeit verschaffen können, wird bei zwei Talks das Thema sein. Im Festivalzentrum im OK | Offenes Kulturhaus, im Gelben Krokodil oder am großen Vorplatz kommt man schnell ins Gespräch, wenn abends eine Projektion auf dem Gebäude Film in ASCII-Code übersetzen wird. "Coded Intimacy" heißt die Arbeit des Künstlers Nathan Guo. So macht man sich definitiv bemerkbar.