Erstellt am: 7. 4. 2015 - 14:12 Uhr
Internetzensur in der Türkei
Internet-Serviceprovider in der Türkei müssen in Zukunft innerhalb von vier Stunden eine Website sperren, wenn die TIB (Telekomünikasyon İletişim Başkanlığı, die staatliche Telekommunikationsbehörde der Türkei) eine entsprechende Weisung erteilt. Erst danach muss sich die Behörde an ein Gericht wenden, um die Sperrung bestätigen zu lassen. Ein entsprechendes Gesetz hat das Parlament in Ankara vorige Woche verabschiedet.
Anstatt einer kompletten Domain können nun auch einzelne Seiten, also Texte, Tweets oder Artikel auf die Sperrliste wandern - als Anlass genügt der vage Vorwurf der Beleidigung oder die Klassifikation als schädlicher Inhalt. Anders als bisher ist die Zensur somit für den Durchschnittsuser also auch nicht unbedingt ersichtlich.
Das neue Gesetz sieht außerdem eine verschärfte Form der Vorratsdatenspeicherung bei der Internetbehörde vor. Türkische Internet-Anbieter müssen nun für zwei Jahre die Verbindungsdaten ihrer Kunden sammeln und auf Verlangen den Behörden übergeben. Der Rechtswissenschaftler Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi-Universität spricht bereits von einer Überwachung "Orwellscher" Ausmaße.
Die Vorgeschichte
CC BY-SA 2.0, flickr.com, User DonkeyHotey
Im März 2014 sperrten die türkischen Behörden Twitter und Youtube, nachdem dort Korruptionsvorwürfe gegen Personen aus dem Umfeld der Regierungspartei AKP verbreitet worden waren. Das Verfassungsgericht hob die Sperren aber im April beziehungsweise im Juni wieder auf. Geleakten Telefonmitschnitten zufolge sagte Erdogan damals: "Twitter und solche Sachen werden wir mit der Wurzel ausreißen". Kurz darauf ließ er einen Gesetzesentwurf ausarbeiten, der teilweise dem heutigen Zensurgesetz entspricht. Internetsperren, so argumentierte die Regierung damals, sollten im Sinne der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der vorzeitigen Verbrechensbekämpfung ausgeführt werden. Allerdings kippte noch im Oktober 2014 das türkische Verfassungsgericht diese geplante Gesetzesänderung als verfassungswidrig.
Unbeeindruckt von dieser Entscheidung des Höchstgerichts arbeitete die Regierung einen zweiten, beinahe identischen Gesetzesentwurf aus und legte ihn am 20. Januar 2015 dem Parlament vor. Wie in dem vorherigen Entwurf sollte auch die neue Änderung die Serviceprovider zum Blockieren von Inhalten zwingen, die bis zu vier Stunden zuvor durch die TIB angeordnet werden würden. Dieses Gesetz hat das Parlament vergangene Woche durchgewunken.
Machtdemonstration
In der gleichen Woche, in der dieses Gesetz vom Parlament beschlossen wurde, demonstrierte die Erdogan-Administration auch ihre Macht gegenüber Internet-Konzernen: Aufgrund von Bildern der blutigen Geiselnahme in der Türkei, die unter anderem den Staatsanwalt mit einer Pistole an der Schläfe zeigten, wurden die Websites von Youtube und Twitter stundenlang komplett gesperrt. Die beiden Internetkonzerne haben daraufhin anstandslos die Fotos entfernt - und die Dienste sind nun wieder zugänglich. Diese Sperren von Youtube und Twitter wurde allerdings noch durch ein Gericht angeordnet - in Zukunft ist sie aufgrund des neuen Zensurgesetzes auch ohne richterliche Anordnung möglich.
Blockiert werden in der - ehemals laizistischen - Türkei auch die Websites bekennender Atheisten oder die Internetpräsenz des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. Kritiker werfen der islamisch-konservativen AKP-Regierung vor, die Meinungsfreiheit zunehmend zu unterdrücken - für ihre Kritik müssen die Aktivisten aber selbst mit empfindlichen Strafen rechnen. Vor kurzem wurde ein Akademiker und Zeitungskolumnist der Opposition wegen eines Tweets, den die Behörden als beleidigend empfanden, zu zehn Monaten Haft verurteilt. 29 weiteren Angeklagten wird gerade der Prozess gemacht – unter anderem, weil sie im vergangenen Jahr über Tweets Proteste organisiert und "Unruhe gestiftet" haben sollen. Für eine Verurteilung reicht seit kurzem sogar das Klicken des "Gefällt mir"-Buttons auf Facebook, wenn der bereffende Artikel als Beleidigung des Präsidenten eingestuft wird.
Dilemma
CC BY-SA 2.0, flickr.com, User Global Panorama
Die Türkei gilt als Prototyp jener Länder, von denen sich die Technik-Unternehmen einen großen Wachstumsschub erhoffen. Die zunehmende Internetzensur stellt für sie also ein beträchtliches Dilemma dar.
Vor einem Jahr brauste Erdogan noch mit einem selbstfahrenden Roboterauto übers Gelände der Google-Zentrale in den USA und sprach davon, die Türkei in ein modernes Technologieland zu verwandeln. Gleichzeitig stellen Behörden immer mehr offizielle Anträge bei Google, um kritische Inhalte entfernen zu lassen. Das Unternehmen beugt sich, um Strafen und Sperren zu entgehen. Google hat in den vergangenen Monaten tausende türkischsprachige Einträge aus seiner Suchmaschine entfernt.
Vorbild China
Internet-Serviceprovider in der Türkei - wie z.B. die teilstaatliche Turk Telekomunikasyon - setzen seit neuestem auch die sogenannte "Deep Packet Inspection" ein. Damit wird der gesamte Netzwerkverkehr eines Computers überprüft. Somit können Beiträge in sozialen Netzwerken gefiltert und Autoren identifiziert werden. Dies ähnelt bereits dem Projekt Goldener Schild, mit dem die chinesische Bevölkerung überwacht und verfolgt wird.
In China werden Internetverbindungen unterbrochen, wenn sich in einem übertragenen Datenpaket bestimmte Stichwörter befinden. Dies betrifft verschiedenste Internetprotokolle, darunter auch HTTP (Web) und POP (E-Mail). Außerdem werden die Paketfilter verwendet, um Anfragen an Suchmaschinen zu prüfen. Menschen in China werden verhaftet, nur weil sie nach verbotenen Begriffen suchen. Welche Konsequenzen die Deep Packet Inspection in der Türkei hat, wird sich noch zeigen.
Nur zu eurem Schutz
Die türkische Regierung hat wiederholt erklärt, dass die Neuerungen die Privatsphäre der Nutzer und Familien schützen solle. Deshalb werden Internet-Anschlüsse in der Türkei auch mit Filterstufen angeboten: "Kind", "Familie" oder "Standard". Obwohl die "Standard"-Einstellung offiziell nicht über einen Filter verfügt, müssen auch deren User mit Einschränkungen rechnen. Blockierte Webseiten können nämlich auch für "Standard"-Nutzer aufgrund der vorher beim Provider erfolgten Deep Packet Inspection nicht mehr einfach durch die Benützung eines Proxyservers umgangen werden.
Eine internationale Debatte über die zunehmende Internetzensur in der Türkei existiert praktisch nicht – Regierungsverteter der EU und der USA halten sich auffallend zurück. Scharfe Kritik kommt fast ausschließlich von Nichtregierungsorganisationen wie Reporter ohne Grenzen, Electronic Frontier Foundation und EDRi.