Erstellt am: 5. 4. 2015 - 15:57 Uhr
Die Mitte des Universums
"Klebe nicht zu sehr an Dingen. Es hat nur eine Minute gedauert, diesen Satz zu schreiben!", notiert Marina Keegan in einer Liste von Punkten, was man beim Schreiben vermeiden soll. Vorsicht auch vor zu vielen Polysyndeta und zu vielen Anaphern. Die Liste im Vorwort von "Das Gegenteil von Einsamkeit" erhöht die Vorfreude auf die folgenden Texte. Um das Buch ist ein Hype entstanden, darum ist man beim Lesen gern noch kritischer.
S.Fischer
Aber die neun Kurzgeschichten von Marina Keegan, die neben neun kurzen Texten - bezeichnet als "Essays" - versammelt sind, haben entwaffnende Wirkung. Unspektakulär, ja banal beginnen die Geschichten mit Fokus auf High-School-Lieben und andere Begegnungen meist zweier Menschen in der US-amerikanischen Mittelschicht. Doch in diesen harmlosen Settings kommt stets mit einem bestimmten Detail - wie einem Würfeldreh um zu Schummeln beim Würfelspiel unter Freunden - der Verlust der Unschuld und eine ungeahnte Tiefe der Erzählung. In klarer Sprache und ohne große Exkurse wird hier Leben festgehalten und gefeiert - und weiter gemacht.
Sehr schöne Kurzgeschichten
In "Kalte Idylle" (im Original "Cold Pastoral") etwa konfrontiert die Ex-Freundin eines Verstorbenen dessen letzte Affäre mit einer heiklen Aufgabe. Sie solle das Tagebuch des Verstorbenen aus dessen Elternhaus holen und es damit vor den Eltern sichern. Wer liebt wie aufrichtig? Fühlt man anders, als es angebracht erscheint? Diese Fragen ziehen sich durch die Geschichten.
Neben den Erzählungen aus weiblicher, junger Ich-Perspektive bleiben vor allem die Geschichten zweier sechzigjähriger Hauptfiguren länger im Kopf. Es ist beeindruckend, wie Keegan anhand der "Sklerotherapie", der Verödung von Krampfadern, das Leben einer Person aufrollt, oder in "Vorlesen" ungelebte Wünsche zum Ausdruck bringt.
Zwei Geschichten sind "Ausreißer": "Die smaragdgrüne Stadt" könnte der Anfang eines modernen Brief-(Email)-Romans und der Plot einer "Homeland"-Episode sein. In "Challengertief" - im Original "Challenger Deep" genannt - und dem Schauplatz Unterseeboot platzt nicht nur das Trommelfell einer Wissenschafterin, sondern der Zusammenhalt unter den ForscherInnen an Bord. Indes wirken die veröffentlichten Essays eher wie Schreibübungen, doch die nehmen auch nur ein Drittel des Buches ein. Darin geht es vielfach ums Sterben, jenes von Walen und das irgendwann einmal tatsächlich drohende Ende der Sonne. Auch mit dem eigenen Tod beschäftigt sich Keegan: An ihr Sterbebett würde sie sich Donuts, Kekse und alles andere bringen lassen, auf das sie allergisch reagiere, und es genießen.
Nicht genug Wörter und ein plötzlicher Tod
Die englische Sprache zählt mehr Wörter als die deutsche. Doch AutorInnen sind ständig auf der Suche. "Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, würde ich sagen, genau so fühle ich mich in Yale", schreibt Marina Keegan anlässlich ihres Uni-Abschlusses im Mai 2012. Wenige Tage später kommt sie bei einem Autounfall ums Leben. Ihr Freund war am Steuer eingeschlafen, er überlebte.
Keegans Text "The Opposite of Loneliness" erschien danach in Zeitungen und Magazinen, im Netz wurde das energische Plädoyer zigtausendfach verbreitet. "Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, könnte ich sagen, genau das will ich im Leben", schrieb Keegan und erzählte vom Gefühl, "das es schon zu spät ist, noch mal ganz von vorne anzufangen, und wir uns damit abfinden müssen, ab morgen geradeaus durchs Leben zu gehen". Marina Keegan war 22. Das Buch "Das Gegenteil von Einsamkeit" zusammen zu stellen und zu veröffentlichen war das Bestreben ihrer Eltern.
Ein "rich kid" also, na und?
Zum Studium an eine der renommiertesten Unis der englischsprachigen Welt, ein Ferienhaus auf Cape Cod und Hummer als Take-Away. Zöliakie als spezielles Merkmal. Marina Keegan war ein rich kid, doch die Herkunft sollte man niemandem vorwerfen. Den Anspruch, für ihre Generation zu sprechen, wie es ihr nun von KritikerInnen zugeschrieben wird, hatte Keegan nicht.
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Will man sich unbedingt über diese posthume Veröffentlichung echauffieren, könnte man bei den Texten ansetzen. Allein, man müsste sehr kleinlich sein. "Erdbeerblond" muss Keegans Lieblingshaarfarbe für Protagonistinnen gewesen sein, auch die wenigen verwendeten Vornamen in den Geschichten wiederholen sich, ohne sich aufeinander zu beziehen. Doch das sind Details und man muss bedenken, dass Keegan nicht alle der Geschichten für eine Veröffentlichung fertiggestellt hatte.
Marina Keegan wollte Autorin werden, unbedingt. Oder: Sie war es bereits, denn sie hatte Stücke, Kurzgeschichten und Essays geschrieben. Sie hat für The New Yorker gearbeitet und eines ihrer Dramen war in Vorbereitung zur Premiere bei einem Theaterfestival. Im Vorwort würdigt sie ihre Professorin. Und sie beschreibt das Bild einer jungen, eifrigen Frau, die das Leben umarmt, aber alles andere als naiv war. Genau so beglückend sind Keegans Geschichten.