Erstellt am: 12. 4. 2015 - 06:00 Uhr
Wladimir Kaminer in der FM4 Bücherei
- Die FM4 Bücherei mit Wladimir Kaminer am Sonntag, 12. April, in FM4 Connected (13-17 Uhr)
- Alle bisherigen Gäste der FM4 Bücherei
Die FM4 Bücherei ist keine herkömmliche Bücherei, in der man Bücher ausleiht, sondern eine, in der Bücher vorgestellt werden.
Der oder die BesucherIn der FM4 Bücherei stellt seine oder ihre drei Lieblingsbücher vor bzw. Bücher, die man lesen sollte.
Diesmal zu Gast: Wladimir Kaminer
Musik und Schwitzen. Das sei eigentlich das Sonntagnachmittagsprogramm des Schriftstellers Wladimir Kaminer. Erst besucht er die Wohnzimmerkonzerte einer Freundin, dann die Holzsauna in einem alten Feuerwehrauto in einem Berliner Hinterhof.
"Das Leben in der Sowjetunion wurde von fremder Hand bestimmt. Es war eintönig, grau und uninteressant", erzählt Wladimir Kaminer. "Nichts Spannendes war auf der Straße. Alles Bunte und Schöne, die tollsten Frauen und klügsten Männer, die interessantesten Gespräche fanden alle in Theaterhäusern statt. Dort versteckte sich das Leben." Also hat Wladimir Kaminer an einer Theaterschule in Moskau studiert – und sich dort durch die Bücherei gelesen. Sein Lieblingsbuch aus der Zeit, "Warten auf Godot", empfiehlt er unter anderen in der FM4 Bücherei und erzählt, was er eigentlich beruflich macht, wie wichtig das Vorlesen ist und was eine gute Kurzgeschichte können muss – schließlich ist er ja heuer in der FM4 Wortlautjury.
"Die Geschichte muss leben. Sie muss mich mitnehmen. Sie muss glaubwürdig sein. Und glaubwürdig kann eigentlich nur eine aufrichtige Geschichte sein. Wenn sich die Menschen anstrengen, etwas von sich geben, was sie gar nicht haben, sondern nur so tun, wenn sie Gefühle beschreiben, die sie selbst nicht fühlen, oder Menschen, die sie nicht kennen, oder Ereignisse, an denen sie nicht teilgenommen haben, dann ist das nicht gut."
Radio FM4
Suhrkamp Verlag
Sascha Sokolow: Die Schule der Dummen
"Das russische Buch hat mich sehr geprägt. Es ist zwar nicht so alt, aber so weise, dass es seine Frische behält. Da ist ein Mann – oder zwei – man weiß es nicht so recht, weil die Persönlichkeit gespalten ist.
Das ist ein Junge wahrscheinlich, der sich als zwei sieht, die immer miteinander streiten. Da wird von der Kindheit in der Sowjetunion in einem kleinen Ort erzählt. Die erste Liebe. Also die beiden Jungs verlieben sich. Sie haben dann ihren Lieblingslehrer, der wahrscheinlich als einziger die beiden sieht. Dieses Buch ist unglaublich poetisch, sehr spannend und eigentlich nicht nacherzählbar. (…)
Eine Episode: Da fahren immer Güterzüge vorbei. Und die Jungs sitzen da und versuchen zu erraten, was da mit weißer Kreide auf diesen Waggons steht. Da stehen immer irgendwelche Zahlen: 67, -11, 10, 13. Und dann stellen sie sich vor, dass irgendwo die Bahnhofsangestellten sitzen und sich ausrechnen, wie lange sie noch bis zur Rente haben. Und das schreiben sie auf diese Züge. Der eine schreibt 11. Der andere 13. 13 minus 11. (...) Es ist eine fantastische Unterhaltung."
Suhrkamp Verlag
Thomas Bernhard: Alte Meister
"Das Buch hat für mich eine unglaublich starke Anziehungskraft und mich voll in seinen Bann gezogen. Ich habe es lange immer wieder gelesen und es war eine Zeit, in der ich oft nach Wien kam, und jedes Mal musste ich zu diesem Bild gehen im Kunsthistorischen Museum und den "Mann mit Bart" anschauen.
Dann ging ich in das Lokal, das Thomas Bernhard beschrieben hat. Wo der Held seines Romans immer mit großem Interesse in der Speisekarte blätterte und immer wieder Bewunderung für neue Sachen ausgesprochen hat, aber dennoch immer das gleiche bestellte: den Tafelspitz.
Und diese unglaubliche Bremse. Dieser Versuch, mit bloßen Händen die Erdumdrehung zu stoppen, die Bernhard dort auf die Geschichte Österreichs produziert hat. Dieses unglaubliche Land in den Köpfen der Menschen, das kaum etwas mit dem realen geographischen kleinen Würstchen zu tun hat, was Österreich ist, diese Diskrepanz zwischen der gewünschten und der realen Welt finde ich fantastisch zur Sprache gekommen in "Alte Meister". Das kann ich nur empfehlen. Das haben bestimmt schon alle gelesen – aber trotzdem."
Suhrkamp Verlag
Samuel Beckett: Warten auf Godot
"Dieses Theaterstück hat mich als junger Mann unglaublich fasziniert. Ich durfte es als Theaterstudent in einer Theaterbibliothek in Moskau ausleihen und sah mich dann als Wladimir - einer der Helden heißt so.
Die ganze Situation, das Warten, das ständige Warten auf Godot, das war genau die Situation, in der meine Heimat, die Sowjetunion sich befand. Die haben ja immer auf Kommunismus gewartet.
Diese Geschichte habe ich irgendwann auswendig gelernt. Ich habe extra Fremdsprachen gelernt, um sie dann in anderen Sprachen lesen zu können. Ich hab es auf Deutsch und auf Englisch gelesen."