Erstellt am: 20. 3. 2015 - 13:41 Uhr
Gibt es den unschuldigen Blick?
Diagonale
Festival des österreichischen Films.
Graz, 17.-22. März 2014
Tägliche Berichterstattung aus Graz im Diagonale Tagebuch auf fm4.orf.at und auf orf.at/diagonale
On demand und zum Nachhören bei 7 Tage FM4: Die Sondersendung zum Filmfestival von Donnerstag, 19. März, in einer FM4 Homebase Spezial.
"Viele schöne Filme anschauen und nicht soviel Depri-Autorenkino". Diese Empfehlung ploppt als Kurznachricht auf meinem Telefon auf. Der österreichische Film hat einen Ruf, begründet wohl auch. Doch bei dieser Diagonale konnte ich "Depri-Autorenkino" noch gar nicht laut sagen. Im Gegenteil: Gestern Abend war das Herz ganz weit.
Und Weite ist nie schlecht.
"Ah, die Totalen." So knapp charakterisiert Constantin Wulff die Publikumsreaktion auf die Bildsprache seines Filmemacherkollegen Nikolaus Geyrhalter. Der Zuschauer soll sich selbst aussuchen, wo er hinschaut, findet Geyrhalter: "Das Zwischenbild zerstört den Raum - und es ist ein gelenkter Blick". Der kleine Saal im Grazer Schubertkino ist komplett besetzt, die Anstellschlange um die Wartenummern reichte bereits vor diesem Werkstattgespräch durch das gesamte Foyer des Kinos. Die Diagonale widmet dem international renommierten österreichischen Dokumentarfilmer Geyrhalter die diesjährige "Personale" und zeigt alle seine bisherigen Filme, dreizehn an der Zahl.
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Mit einer Deutsch sprechenden Russin begibt man sich vom Land auf ein Schiff auf der Donau. Erst mit ihrem geführten Rundgang, vorbei an ihrem Mann, den Kabinen, den Frachtlagern und den Hühnern an Bord, von denen wiederum ihr Mann stolz eines an seine Brust drückt, stellt sich ein Gefühl für die immense Größe des Schiffes ein. "Angeschwemmt" ist Nikolaus Geyrhalters erster Film, gedreht mit 22. Unterwegs im Auto der Oma, mit seinem heute langjährigen Cutter - oder wie es manche bevorzugen: Editor - Wolfgang Widerhofer, der damals Ton gemacht hat, ist Geyrhalter darauf bedacht, stets all das notwendige Equipment bei sich zu haben. Unabhängig zu sein. 1994 wird er seine Filmproduktion gründen. Zur Fotografie und zum Theater hätte es ihn als jungen Mann gezogen, der Film ist es geworden.
Die kurze Plansequenz aus "Angeschwemmt" zeigt schön, dass nicht allein Totalen zu Geyrhalters Ästhetik gehören. Phantom Rides und travellings gehören auch dazu. Mit Geyrhalters Filmen begibt man sich auf Reisen. Manchmal käme der Filmemacher und Kameramann mit drei Bildern zurück in den Schneideraum und erklärt: "Mehr war nicht zu sehen", erzählt Widerhofer.
"Niki, ich habe dich im Verdacht, du träumst doch immer von diesem unschuldigen Blick!", neckt Constantin Wulff im Gespräch. Vielleicht träume er nicht nur von diesem unschuldigen Blick, vielleicht gäbe es den tatsächlich, kontert Geyrhalter.
Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
A great escape - Tipp: Nikolaus Geyrhalters Reise an die entlegendsten Orte der Welt, "Elsewhere", ist kommenden Sonntag im Rahmen der Diagonale zu sehen. 12 Schauplätze, je 20 Minuten, Abenteuer und Weiten tun sich auf.
Sein nächster Film wird komplett ohne Menschen auskommen. "Vier Stunden?", fragt jemand aus dem Publikum, denn auch der Zeitfaktor ist für Geyrhalters Werk zentral. Ein Film ohne sichtbare Menschen also. Der Umgang mit ProtagonistInnen gehöre zum Schwierigsten der Filmarbeit überhaupt. "Es ist und bleibt ein Machtverhältnis", stellt Geyrhalter fest. Und er wisse nicht, was er den ProtagonistInnen zurückgeben könne. Die Beteiligung an einem Film könne ein Leben durcheinanderwürfeln, wie eine Naturgewalt. Da entgegnet jemand aus dem Publikum, er lasse die Menschen erzählen und das mache auch etwas mit ihnen. "Ja, aber wer ist schon gern ein Unwetter?", fragt Geyrhalter.
Respekt: Vom Alltag in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie
SchauspielerInnen werden für ihre Darstellungen bezahlt. Im Dokumentarfilm wirken Menschen regulär unentgeltlich mit und was sie preisgeben, betrifft ihr Leben. Dankbarkeit dafür ist im Fall von "Wie die anderen" angemessen: Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landesklinikums Tulln öffnet sich in dieser Doku von Constantin Wulff. Bei der Uraufführung gestern Abend traten fünf ProtagonistInnen nach der Vorführung noch einmal vor das Publikum: die zwei jungen Frauen Sarah und Leah, Psychiater Paulus Hochgatterer und zwei seiner MitarbeiterInnen. Großer Respekt.
"Wie die anderen" ist so spannend wie herzergreifend. Auszuhalten ist er, weil hier nicht auf Voyeurismus gesetzt oder Tränendrüsen gedrückt wird. Als ZuschauerIn ist man stiller Gast, ein Hospitant und ganz nah an den Menschen, doch stets beobachtend und damit beschäftigt, zu begreifen.
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Da sind Kinder, die mit ihren Anpassungskräften am Ende sind. Die extrem wissend über ihre Gefühle sprechen und sich und/oder ihrer engsten Umgebung nicht auskommen. Ärzte sprechen Feststellungen in Diktafone, die familiäre Tragödien kurzfassen. In den Teambesprechungen wird diskutiert, beratschlagt und jenes Ventil geöffnet, dass sich beim Schauen des Films über viele Details einstellt: "Es ist so grauslich und so schwer aushaltbar", sagt eine Ärztin, zu tun hat sie es mit einem Mädchen mit Analriss. Das Personal will nicht Kriminalpolizei spielen. Doch wie weit muss ein Psychiater einem Patienten nachlaufen, wenn dieser suizidgefährdet ist? Bis zum Bahnhof oder endet die Verantwortung vor der Kliniktüre?
Im Alltag ist das Team permanent am Befragen und Bestärken der PatientInnen. Äußere Ruhe wird bewahrt, über einen Computermonitor blickt man in einen "padded room", wie es die englischen Untertitel definieren. Im Dialog des Fachpersonals wird die "Gummizelle" nicht benannt. Schutzfixiert und videoüberwacht ist ein Mädchen am "Agieren". Eine kurze Einstellung zeigt das Medikamentenlager.
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Der Film dokumentiert vielmehr Familien- und Beziehungs- denn Krankheitsbilder. "Es wäre wichtig, anzuerkennen, was er geleistet hat. Das war wirklich heroisch", sagt ein Arzt in "Wie die anderen" der Mutter eines Jugendlichen.
Regisseur Constantin Wulff hat "Wie die anderen" gemacht, weil er nie entsprechende Kinobilder für diese Institutionen gefunden habe. Darstellungen der Psychiatrie seien entweder inspiriert von den Praxen des 19. Jahrhunderts oder Hollywoodvorstellungen. Die Doku kommt im Herbst in die heimischen Kinos, absolute Empfehlung.
Revisiting Haider
Den Sinn erkennt man zwar auch in Nathalie Borgers "Fang den Haider", aber der Mehrwert ist gering. Es sei denn, man war zu Jörg Haiders politischen Hochzeiten noch zu jung, um Nachrichten zu verfolgen. Die gebürtige Belgierin will das Phänomen Haider ergründen, packt ihren Rollkoffer und fährt nach Kärnten, Oberösterreich und schließlich zurück nach Wien. Während Haiders Lebzeiten wollte Borgers ihm nie persönlich begegnen, gibt sie zu Protokoll, zu viele - gerade auch Kritiker - habe er verführt. Die Überhöhung der Person Haider durch seine AnhängerInnen spiegelt sich konträr in Borgers Haltung.
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Also arbeitet sich Nathalie Borgers, deren "Kronen Zeitung - Tag für Tag ein Stück Boulevard"-Doku so gelungen war, an der Person Haider ab. Nur wenige WegbegleiterInnen wollen mit ihr sprechen, bedauert sie in gefilmten Recherchetelefonaten. So wenige sind es aber nicht. Eitelkeiten spielen ihr zu. Peter Westenthaler erklärt Volksbegehren ("Du machst eine Kampagne, damit die Leute deine Meinung unterschreiben") und Hubert Gorbach gibt das Interview mit Nullaussage zu den Reisen in den Nahen Osten im Beserlpark. Heide Schmidt zeigt alte FPÖ-Flyer und Wahlkampfbroschüren. Die Tochter des 1941 verstorbenen Abgeordneten zum Kärntner Landtag und frühen Anhänger der NSDAP Ferdinand Kernmaier kocht Eierschwammerlgulasch und erklärt die freiheitlichen Werte: "Leistung, Ordnung und Disziplin. Das geht den Leuten heute vielfach ab". Jörg Haiders Schwester und Politikerin macht Apfelstrudel - ohne Rosinen, obwohl sie die isst, aber der Jörg hat sie nicht gemocht. Filmemacherin Borgers nimmt zwei Kilo zu, zwischen dem Besuch des Blondviehfests und einem Rundgang im Leerstand des einstigen Asylwerberheims auf der Saualm. Kurz angerissen wird die Causa Hypo: "Die Pleite Kärntens ist vergleichbar mit der Pleite Griechenlands", äußert sich Borgers. 1, 2, 3, Diskussion - go.
Die kurzweilige Doku könnte auch "Revisiting Haider" heißen. Neues erfährt man nicht, höchstens, was mit der Tankstelle passiert ist, an der die Abgabe von billigem Benzin an die KärntnerInnen versprochen worden war. Das verwendete Archivmaterial ist prägnant und knapp eingesetzt. Die wesentlichen Stationen im politischen Leben Haiders sind komprimiert. Bloß bleibt die Frage: Warum hat sich Nathalie Borgers nicht etwa Heinz-Christian Strache gewidmet?
"Bad Luck" oder auf einmal bist nur noch ein Wurm
Nach Kärnten führt auch der Spielfilm "Bad Luck". In Thomas Woschitz' neuem Film überschlagen sich Autos. Ein Unfall reiht sich an den nächsten. Schulden sind eine Last, die zur nächsten Last führt. Eine Tankstelle in der Pampa ist das Drehkreuz für die Schicksale der wenigen Hauptfiguren. Der Dialekt ist unüberhörbar und wesentlich. Da ist einer schnell nur noch ein "Wurm" für den einst engsten Geschäftspartner.
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"Bad Luck" punktet mit seiner konsequenten Stimmung, seinen eigenwilligen Figuren - allen voran dem bärtigen Rizzo gespielt von Christian Zankl, der an Zach Galifianakis erinnert, und knappen Dialogen. Leider wird ein bisschen zu viel erzählt, ein paar Handlungsstränge zu kombinieren hätte Woschitz dem Publikum durchaus zutrauen können. Dennoch empfehle ich den Film der Freundin, die mich vor Depri-Autorenkino warnte.
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