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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

19. 3. 2015 - 11:20

Der doppelte Boden

Freud hätte seine Freude mit der diesjährigen Diagonale. Heimische Psychothriller unterhalten.

Um elf Uhr vormittags im Kurzspielfilmprogramm 1 geht es los. Eine Filmemacherin nach der anderen offenbart im Gespräch, wie gewichtig autobiographische Erlebnisse für die Arbeiten waren. Von Therapeuten und Krankenhaushalten ist die Rede. Das Publikum hört zu, für Fragen ist es zu früh. Was man in den Minuten zuvor gesehen hat, war weniger dramatisch. In Barbara Kaufmanns "still" wird eine Kurzgeschichte aus kindlicher Perspektive, erzählt im Off, zu einer Familientragödie, deren Grauen sich in der Imagination ergibt. Bild an Bild fügen sich Betrachtungen von Häusern, Wald, Wohnorten.

In "Gefühl Dobermann" verfolgt Gabriele Mathes einen sehr eigenwilligen Weg des Filmemachens: in ihren Dreh war die Familie eingebunden, und erfährt Szene für Szene von der Geschichte. Dass die eigene Mutter nicht unbedingt vor der Kamera einen Pflegefall mimt, der niedergeknebelt wird, ist ein Dialog für sich. Mit "Flugversuch", dem dritten Film im Dreierpack des ersten kurzen Programms, porträtiert Thomas Hajnik sehr präzise die Einsamkeit einer Frau über fünfzig, die mit YouTube einen Kanal für ihre Gefühle und selbst getexteten Schlager gefunden hat.

Die Kurzfilm-Programme, ob Spiel-, Doku- oder innovatives Kino, sind wie eine Überraschungstüte. Der Reiz daran ist, zu sehen, ob denn jemand dabei ist, von dem man sich einen Langfilm wünscht. Nachmittags im Kurzspielfilmprogramm 2 überzeugten alle drei: Rafael Haiders "Esel" über ein älteres Ehepaar, dem Schlussmachfilm "Liebling" von Sebastian Schmidl und der von der Ausstattung und in jeder Einstellung durch und durch komponierten Groteske "Pitter Patter Goes My Heart" von Christoph Rainer.

Eine junge Frau guckt traurig. Filmstill aus dem Kurzfilm "Pitter patter goes my heart"

Maor Waisburd

"Pitter Patter Goes My Heart": Da ist kein einziges Detail bloß "passiert"

Der Druck steigt

"heile welt" hieß das Langspielfilmdebüt des gebürtigen Grazers Jakob M. Erwa, das 2007 bei der Diagonale lief und prompt mit dem Großen Diagonale-Preis für den besten österreichischen Spielfilm ausgezeichnet wurde. Gestern hatte Erwas neuer und zweiter Spielfilm "HomeSick" Österreich-Premiere und darin zerbricht die Welt einer jungen Frau. Es ist einer von mehreren Spielfilmen dieses Jahr, in denen die Normalität kippt und psychische Ausnahmesituationen die Handlung vorantreiben.

Auf der Berlinale war "HomeSick" diesen Februar zu sehen und im Instagram-Feed des Festivals fand sich neben Schnappschüssen mit Anton Corbijn, Lars Eidinger mit Haarspangerl oder Dakota Johnson am roten Teppich das Team von "HomeSick". Worum geht's?

Ein junges Paar bezieht eine schöne Altbauwohnung. Alles will perfekt werden. Doch kaum haben sie sich fertig eingerichtet, wird eine Altmieterin und Nachbarin zum nie gebetenen Gast. Während Jessicas Freund bei der Arbeit außer Haus ist, wird die Cello-Studentin Jessica (Esther Maria Pietsch) beim Üben unterbrochen. Lorenz bekommt nichts von den Vorgängen im Mietshaus mit, aber Jessica fühlt sich von den Animositäten der Nachbarin (super gruselig-streng: Tatja Seibt) zunehmend bedroht. Ein wichtiger internationaler Wettbewerb steht an, Jessicas Ehrgeiz ist unerbittlich und der Druck steigt. Ein Kätzchen soll Beruhigung bringen. Man ahnt, es geht nicht gut aus mit dem Tier. Jede sieht, was sie sehen will. Es ist ein Psychodrama/Thriller und ein zeitgenössisches Kammerspiel.

Filmstill aus "HomeSick": Junge Frau steht vor der Eingangstüre in ihrer Altbauwohnung und trägt nur ein Handtuch

mojo pictures / Christian Trieloff

"HomeSick"

Crowdfunding allein kann's nicht sein

Realisiert und produziert hat Jakob M. Erwa seinen Film binnen achtzehn Monaten, ohne große Gelder von Filmförderungen, sondern mittels Crowdfunding und einem Team, das bereit war erstmal ohne Gage zu arbeiten. Allerdings warnt Erwa: "Crowdfunding darf weder im Filmbereich noch im Kultursektor als einziges Finanzierungsmittel missverstanden werden oder öffentliche Kulturförderung ersetzen".

Was Kritik am Film angeht, bin ich befangen, weil ich an der Untertitelung mitgearbeitet habe. BesucherInnen der gestrigen Österreich-Premiere fanden - ohne zu viel zu verraten: Der Schmäh mit dem "Anschlussfehler" und die Auflösung der Geschichte mit der letzten Einstellung wären gelungen. Das Ensemble super. Der Suspense-Sound sei ein bisschen zu übertrieben.

Frau mit Kopfhörern spielt Cello, Filmstill aus "HomeSick"

mojo pictures / Christian Trieloff

Man könnte Maximo Park zitieren: "I like to wait to see how things turn out if you apply some pressure" - "HomeSick" setzt in der Filmmusik allerdings auf das Cello

Ungeahnte Abgründe

Die Verrücktheit steckt im Langspielfilm-Debüt von Andrina Mračnikar bereits im Titel. In „Ma Folie“ tun sich in einer Liebesbeziehung Abgründe auf, die den Außenstehenden schwer bis schlicht nicht vermittelbar sind. Das Kinopublikum ist somit klar im Vorteil.

Zu Beginn ist es Liebe auf den ersten Augenblick in einem Café in Paris. Beim Verlassen des Lokals läuft ein unbekannter junger Mann einer jungen Frau nach. Mehr Amour Fou geht nicht. Wenige Tage nach einem sehnsüchtigen Telefonat liegt der französische Geliebte mit Hanna (Alice Dwyer) in Wien im Bett, eigens eingeflogen aus Paris, und erklärt, er könne für immer bleiben. Sein Arbeitgeber wollte ihm nicht freigeben, also habe er gekündigt. Hanna ist verdutzt.

Noch ein Psychothriller und innerer Horror: "Ich seh ich seh" von Veronica Franz lief im Jahresrückblick bei der Diagonale

Gruselig war schon das selbstgedrehte Video, in dem dieser Yann ihr nach dem Abschied in Paris mitteilte, er übe, ohne sie zu sein. Aber was sich in den Tagen des Wiedersehens in Wien abspielt, drängt die Frage auf: Ist das noch Eifersucht oder schon pathologisch? Yann pocht auf Wahrheiten, die seine Wahrnehmung bestätigen. Auf intensiven Sex folgt abrupt Abwertung und Zurückweisung, ohne Anlass oder Erklärungen.

Filmstill aus "Ma Folie": Mann küsst Frau leidenschaftlich

Filmladen Filmverleih

"Ma Folie" trägt die Verrücktheit im Titel

Yanns Projektionen und Schuldzuweisungen hinterlassen Spuren: Hanna wird komplett verunsichert. Wem ist noch zu trauen? Und wieder bekommt sie Videos – lettres filmées – auf ihr Smartphone.

Mann hält sein Smartphone und filmt

Filmladen Filmverleih

Hallo Obsession: Sabin Tambrea in "Ma Folie"

Das hausgemachte Drama arbeitet sich mit konstant gehaltener Spannung auf jenen Punkt zu, an dem Realitäten erschüttert werden. Ein konkretes Krankheits- oder Störungsbild diente Andrina Mračnikar zwar nicht als Vorlage, doch man könne sich ausdenken, dass Borderline eine Rolle spielt, sagt die Regisseurin. Wie die eigentliche Noch-Normalität ins Verrückte kippt und was das mit den Mitmenschen macht, führt „Ma Folie“ drastisch vor.

Von einem Moment auf den anderen verändern sich die Gesichtzüge Sabin Tambreas als Yann von kindlich-fröhlich zu gruseligem, ja brutalem Ausdruck. Toll ist das ganze Ensemble, das bis auf Gerti Drassl hierzulande unbekannt ist.

Für das Drehbuch zu „Ma Folie“ hatte Andrina Mračnikar 2005 den Carl-Mayer-Drehbuchpreis der Stadt Graz erhalten – und sie ist damit eine der Nominierten für den Thomas Pluch Drehbuchpreis, dem am besten dotierten des Landes, der diesen Freitag im Rahmen der Diagonale verliehen werden wird.

Ein Wald und darin eine Art beleuchteter Kiosk. Filmstill aus "Centaurus"

Ioannis Gkonis

"Centaurus" vor dem Schlafengehen

Heute Abend gibt es mit "Centaurus" ein weiteres Langspielfilmdebüt. Auch Wolfgang Rupert Muhr setzt einen doppelbödigen Psychotrip, so die Ankündigung im Diagonale-Katalog. Plakate für "Centaurus" hängen vielerorts in Graz, um 23.00 Uhr im Annenhofkino übernimmt man heute die Spätvorstellung.