Erstellt am: 17. 3. 2015 - 13:12 Uhr
Karriere? Nein, danke!
Ich saß im Theater.
Elfriede Jelineks "Das Werk": Pritschnasse junge Sportfreunde schleudern Zwangsarbeiterleichenteile auf den überschwemmten Bühnenboden, dass es nur so spritzt.
"Ich hab' keinen Ehrgeiz mehr! Ich hab' keinen Ehrgeiz mehr!" ächzen und brüllen sie.
Alles für den Lebenslauf?
In FM4 Auf Laut diskutiert Judith Revers heute von 21 bis 22 Uhr über Karrierismus und Karriereverweigerung.
Ruf an und diskutiert mit unter 0800 226 996!
Ich saß im Theater und fühlte mich plötzlich erlöst.
Am Nullpunkt der Ambition angekommen, schrien diese turnenden Spätgeborenen ihren Befund erst weinerlich klagend heraus, dann triumphierend, befreit vom quälenden Ehrgeiz.
Ich kannte zu diesem Zeitpunkt meines Lebens auch keinen Ehrgeiz mehr.
Um noch als halbwegs normal zu gelten, spielte ich meiner Umwelt hin und wieder Ambitionen vor. Aus Neugierde ließ ich mich auf kräftezehrende Projekte ein, deren Nutzen für die Menschheit ich zugleich bezweifelte.
Ich vernachlässigte meine Freundin, wenn ich nachts arbeitete.
Sie vernachlässigte mich für ihren Versuch, "Karriere" zu machen.
I would prefer not to.
Und dann lebte ich das genügsame Leben eines glücklichen under-achievers.
Bis ich rund um meinen 33. Geburtstag plötzlich wieder mit meinem Mangel an Ehrgeiz konfrontiert war. Andere Leute haben in diesem Alter eine Weltreligion gegründet. Und ich?
Mich befiel das beklemmende Gefühl, noch etwas anderes werden zu müssen als was ich schon war.
Also: Überprüfung der Frage, ob "Karriere" wirklich so schmutzig ist, wie es klingt. Ziele festlegen, Finanzpläne, Steuern zahlen!
Schnell, bevor alle Züge abgefahren sind!
Dann fiel mir durch ein Manöver meiner Kollegin Judith Revers das Buch "Arbeit ist nicht unser Leben" (erschienen bei Bastei Lübbe) in die Hände.
Haus Bartleby
Gehört das so?
Bereits beim Lesen der ersten Kapitel löste sich mein künstlich erzeugter Karrierestress.
I. Karriere macht dumm
II. Arbeit macht arm
III. Ehrgeiz macht krank
Die deutsche Journalistin Alix Faßmann montiert in dem Buch Beobachtungen und wissenschaftliche Studienergebnisse mit Stationen ihrer eigenen jüngsten Biografie.
Bastei Lübbe
Sie wurde von der "großen anderen Volkspartei" als unabhängige Journalistin angeworben, um sachliche, kritische Inhalte der Basis dem Apparat zu Gehör zu bringen.
Nach einem Jahr Leerlauf stieg sie aus.
"Ich denke. Also bin ich hier falsch."
Wer als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Universitäten, Staatstheatern oder Forschungseinrichtungen arbeitet, kann sich am Monatsende auf Nudeln mit Ketchup einstellen: kaum einer bekommt mehr als 1000 Euro im Monat raus. [...] Das Gefühl, dass es kein Durchkommen gibt, schon gar kein Ankommen in so etwas wie Sicherheit, dass Wohlstand aus eigener Kraft nicht oder nur durch totale Selbstaufgabe und Preisgabe von Familie, Freizeit und Gesundheit möglich ist, das war und ist allgegenwärtig.
Karriere ist ein falsches Versprechen.
Um Distanz zum sich erschöpfenden Arbeitsgetriebe zu bekommen, fährt Faßmann nach Italien ohne Plan oder Ziel. Eine Flucht.
Irgendwann geht ihr das Geld aus, sie sitzt mit 26 Cent in einem Café in Neapel und bestellt trotzdem noch einen Capuccino.
Das Leben besteht aus abenteuerlichen Wendungen. Alix Faßmanns in Kauf genommener Geldmangel konfrontiert sie mit allerlei alternativen Lebensweisen. Stellenweise erinnert ihr autobiographisches Sachbuch an Orwells "Down and Out in London and Paris".
Bei der Olivenernte im sizilianischen Riesi lernt Faßmann den Dramaturgen und golem-Gründer Anselm Lenz kennen, der gerade auf der Durchreise nach Libyen ist.
Er stiftet sie dazu an, ihre Erfahrungen und ihre Kritik an Arbeitsreligion, Leistungs- und Konkurrenzwahn, Karoshi, Wachstumsideologie, Wegwerfkonsum und damit einhergehendem Verschleiß an Mensch und Umwelt, in Buchform zu verschriftlichen.
Nun stellt sich die Frage, wie man ohne oder mit wenig Geld von der Angst loskommt, die uns an überflüssigen Gegenständen hält.
VIII. Ohne Fleiß kein Verschleiß
IX. Zusammen sind wir weniger allein
X. Denn wir wissen, was wir tun.
Haus Bartleby
Kommt da noch was?
Mit Anselm Lenz und Jörg Petzold gründet Alix Faßmann in Berlin das Haus Bartleby, einen Think Tank, eine Lobby, einen Muße- und Reflexionsort: ein Zentrum für Karriereverweigerung.
Bartleby, der Schreiber ist tragischer Säulenheiliger der unaggressiven Verweigerer moderner entfremdeter Arbeit aus der Erzählung von Hermann Melville, 1853.
Das Scheitern am System soll aus dem Privaten, wo es von Schuld und Scham verdeckt und undiskutierbar ist, herausgeholt werden und als bewusste, sexy-souveräne Haltung möglich gemacht werden.
Hier betreiben sie Grundlagenforschung zur Abrüstung bisher miteinander konkurrierender Ichlinge, KleinbürgerInnen, Arbeitsloser und reicher ErbInnen.
Es gibt Diskussionsrunden, Werkgespräche, Experimente in Schulen, demnächst eine Sommerakademie.
Auf der Grundlage des Verstehens unserer Gegenwartsgesellschaft will das Haus Bartleby neue Formen praktischer Solidarität finden und es trifft damit ein Nervenmassiv.
Betritt mensch die Hintertür des Hauses Bartleby, quellen die Foren über vor Selbstermächtigung:
Ich gebe mich zu erkennen. Es reicht mir mit dem Versteckspiel. Schluss mit der Angst vor Konsequenzen! Entgültig! Ich habe wirklich die Schnauze gestrichen voll! Jetzt kommt mein heiliger Zorn zum Vorschein, den ich hoffentlich wirkungsvoll einzusetzten vermag!
Während wir gespannt die Formierung einer Bartleby-Bewegung erwarten, erreicht uns die Nachricht: das Haus Bartleby und der Club of Rome planen für November 2015 eine größere öffentliche Intervention in Wien.
Und du? Wie hältst du es mit der Karriere?