Erstellt am: 15. 3. 2015 - 10:54 Uhr
"Der Täter war wie ich"
Es gibt Bücher, die fackeln nicht lange herum: "Löwen wecken" ist so eines. Es basiert auf einem realen Vorfall, der sich vor rund zehn Jahren im Himalajagebiet zugetragen hat. Ayelet Gundar-Goshen war, nachdem sie den Militärdienst hinter sich hatte, mit einer Gruppe von Israelis im Himalaja unterwegs.
Kein&Aber Verlag
Einer aus der Gruppe, fiel ihr auf, schlief nicht mehr und saß nur verzweifelt herum. Er erzählte ihr schließlich, dass er einen Inder mit seinem Motorrad überfahren habe und geflohen sei. Zehn Jahre später lässt die Psychologin und Schriftstellerin ihren zweiten Roman mit einem an diese Erinnerung angelehnten Vorfall beginnen.
Warum hast du dich zehn Jahre nach diesem Ereignis im Himalaja dazu entschlossen, einen Roman daraus zu machen?
Ayelet Gundar-Goshen: Mich hat diese Geschichte immer verfolgt, die ganze Zeit seither. Was mich damals schockiert hat, war, dass der Täter ganz normal ausgeschaut hat. In meinem Verständnis ist jemand, der so etwas tut, also jemand, von dessen Fahrerflucht man in der Zeitung liest, ein Gauner. Aber der Typ war wie ich. Er hat das gleiche Buch gelesen wie ich, er hatte eine Gitarre dabei und hat Beatles gespielt. Und die Idee, dass jemand, der überhaupt nicht böse wirkt, so etwas Böses tun kann, hat mich sehr, sehr lange verfolgt. Ich wollte das verstehen. Und der beste Weg, es zu verstehen, ist für mich, darüber zu schreiben.
Und was ist mit dem Mann von damals passiert? Du selbst wurdest ja ein Teil der Geschichte, weil er sich dir anvertraut hat. Du hattest damit ja auch eine Verantwortung, musstest dich entscheiden, ob du zur Polizei gehst, ihn verrätst oder die Sache für dich behältst.
Ich habe ihn nach dieser Nacht nie mehr gesehen. Ich war damals schockiert, hatte aber das Gefühl, nur eine Beobachterin zu sein. Erst als ich den ganzen Roman fertig geschrieben hatte, ist mir klar geworden, dass ich nicht nur Augenzeugin war, sondern Beteiligte, die beschlossen hat, sich nicht weiter dazu zu äußern und einfach nur da zu sitzen. So etwas passiert einem oft, man hat das Gefühl, als Außenseiter zu beobachten, aber tatsächlich trifft man die moralische Entscheidung, nichts zu tun.
Katharina Lütscher
Nach meinem Gespräch mit der Autorin und nun wieder, während ich das schreibe, kommt mir der Gedanke, die Geschichte könnte nicht wahr sein, ist vielleicht so im Himalajagebiet nie passiert. Es ist aber im Grunde egal - irgendwo, irgendwann passieren Dinge, die eigentlich nicht passieren sollten.
In "Löwen wecken" hat Ayelet Gundar-Goshen aus dem Jungen einen Arzt gemacht: Etan, ein mit einer Polizistin verheirateter Mann, der zwei Kinder hat und in einem Krankenhaus in Beer Sheva arbeitet. Eines Nachts kommt ihm in den Sinn, nach dem Dienst eine Spritztour zu machen. Janis Joplin quäkt aus dem Autoradio, Etan brettert durch die Wüste und überfährt einen Eritreer. Er steigt aus, sieht, dass der Mann an den Folgen seiner Kopfverletzung sterben wird, und fährt nach Hause.
Für die Entwicklung des Romans ist es entscheidend, dass das Opfer ein illegal in Israel lebender Eritreer ist. An einer Stelle im Buch wird die Frage gestellt, was passiert wäre, wenn es sich um ein weißes Kind gehandelt hätte. Es geht also auch darum, dass das Leben des Einzelnen einer Hierarchie in der Gesellschaft ausgesetzt ist.
Ayelet Gundar-Goshen: Die grundsätzliche Frage, mit der ich begonnen habe, war: Was erlaubt es einem Menschen, einen anderen Menschen zu überfahren und einfach weiter zu fahren? Und für mich war sehr klar, dass, wenn Etan jemanden überfahren hätte, der genauso ausschaut wie er, einen anderen Weißen im Arztkittel, wäre er geblieben. Und ich habe mich gefragt, wer ist am weitesten vom Arzt entfernt. Und das war der schwarze Flüchtling. Einerseits ist das ein sehr israelisches Problem, weil wir gerade jetzt eine große Diskussion über illegale Flüchtlinge aus Eritrea führen. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr universelle Geschichte, die überall passieren kann.
Am Morgen nach dem Unfall läutet es bei Etan an der Tür und vor ihm steht eine Eritreerin. Etan hat seine Geldtasche am Unfallort verloren. Und die Eritreerin ist die Frau des Opfers. Sie erpresst ihn. In weiterer Folge erzählst du aus unterschiedlichsten Perspektiven, aus Etans Sicht, aus der Sicht der Eritreerin, aus der Sicht von Etans Frau Liat und vieler anderer. Wie verlief dein Schreibprozess, waren dir die unterschiedlichen Perspektiven von vornherein klar, wie hast du den Roman entwickelt?
Ich wusste, dass die Geschichte mit einem Unfall und der Fahrerflucht beginnen muss. Aber der Grund, weshalb ich so lange nicht zu schreiben begonnen habe, war, dass ich Angst hatte, einen Mann zu haben, der in seinem Wohnzimmer sitzt und sich viele, viele Seiten lang sehr, sehr schuldig fühlt. Aber ich wollte keinen Roman über die Schuld eines weißen Mannes in seinem Wohnzimmer schreiben. Ich habe gewartet, bis ich die Idee mit der Frau des Eritreers hatte, die kommt, um ihn zu erpressen. Erst dann hat es mich interessiert, auf die lange Reise dieses Romans zu gehen, weil ich damit quasi eine reale Wiedergängerin von Etans Schuld hatte, eine Frau, die etwas zurückverlangt, und damit den Konflikt zweier Menschen und nicht nur das Innere einer Person.
Etan ist in einer Zwickmühle und, ohne mehr verraten zu wollen, wird er nächtelang nicht zu Hause sein, seiner Frau gegenüber diverse Nachtdienste, zusätzliche Patienten und Katastrophen vortäuschen und dem Krankenhaus gegenüber Probleme mit seinen Kindern, kurz gefasst: Er beginnt ein Doppelleben. Sie bemühen eine gewagt platte Konstruktion, um neben dem Konflikt zwischen Etan und der Eritreerin auch das Wesen der Beziehung zwischen Etan und seiner Frau Liat unter die Lupe zu nehmen. Liat nämlich wird der Fall der Fahrerflucht als Polizistin übertragen. Ohne es zu wissen, ermittelt sie gegen ihren eigenen Mann. Gegen Ende des Romans heißt es "für ein solches Geheimnis braucht es zwei. Einen, der nicht erzählen, und einen der nicht wirklich hören möchte".
Es fasziniert mich immer, wenn ich auf der Straße gehe, den Menschen in ihre Gesichter schaue und nicht weiß, welche Geschichten sich dahinter verbergen. Aber beängstigender finde ich die Vorstellung, dass wir nicht nur die Menschen auf der Straße nicht kennen, sondern auch die Menschen, die mit uns in einem Haus leben. Es hat mich fasziniert, dass zwei Menschen, die jede Nacht nebeneinander schlafen, sich umarmen, miteinander schlafen, den Geruch des jeweils anderen kennen, zwei Menschen, die glauben, einander zu kennen, tatsächlich völlig blind sind. Diese blinden Flecken braucht man im Grunde, um lieben zu können. Die Geschichte so zu konstruieren, dass ein Mann jemanden überfährt und die Ermittlerin des Falles seine Frau ist, ist wie ein Thriller-Klischee. Man sieht so etwas ständig im Fernsehen. Ich liebe die Idee, ein Klischee zu benutzen und der Wahrheit dieses Klischees auf den Grund zu gehen. Und die Idee ist, dass wir uns ständig in einem Zustand von Ermittlungen gegenüber den Personen, die wir lieben, befinden. Als müssten wir sie ständig jagen, um sie wirklich kennen zu lernen. Und andrerseits wollen wir sie nicht wirklich kennen, wir wollen nichts wissen, nichts hören, nichts sehen. Es waren für mich die intimsten Momente, die Geschichte von Liat zu schreiben, von einer Frau, die glaubt, ihren Ehemann zu kennen, das aber in Wahrheit überhaupt nicht tut.