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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

10. 3. 2015 - 22:09

Overruled

Verfehlte Ziele, Verletzung von Menschenrechten, eingeschränkter Rechtsschutz. Ein kleines ABC der europäischen "Rettungspolitik".

Lukas Oberndorfer

Universität Wien

Lukas Oberndorfer ist Jurist & Europaforscher und in der Arbeiterkammer in der Abteilung EU & Internationales tätig

Egal wer die neue griechische Regierung stellen würde, "Verträge sind einzuhalten", hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ende Jänner erklärt. Jetzt ist das Linksbündnis SYRIZA in Regierungsverantwortung und ihr Finanzminister Yanis Varoufakis Vertreter der GriechInnen, wenn es um EU-Gelder für das finanziell schwer angeschlagene Euroland geht. Welches juristische Gewicht haben die Treffen der Euro-Finanzminister? Wie funktioniert die "Troika" aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds und sind ihre Anordnungen rechtlich und demokratiepolitisch gedeckt? Interview mit Lukas Oberndorfer, Europaforscher und Jurist, tätig in der Abteilung EU & Internationales der Arbeiterkammer.

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In den letzten Wochen haben sich griechische Regierungsverteter in der sogenannten "Eurogruppe" wiederholt mit den Finanzministern der anderen Euro-Staaten getroffen, um die griechischen Kreditbedingungen neu-/um-/weiterzuverhandeln. Grundsätzlich, um verstehen zu können, was dort passiert: Was ist die Eurogruppe, wer sind ihre Mitglieder?

Das interessante ist: Obwohl die Eurogruppe in den letzten Wochen – zumindest in der medialen Wahrnehmung – so eine zentrale Rolle gespielt hat, ist das eigentlich nur eine informelle Gruppe. In den Verträgen steht auch, dass die Eurogruppe dazu dient, den Finanzministern jener Mitgliedsstaaten, die den Euro haben, ein Forum zu bieten, wo sie sich koordinieren können. Das heißt: Rechtlich gesehen haben die eigentlich gar nicht so viel Macht. Faktisch haben sie natürlich sehr, sehr viel Macht.

Aber rein rechtlich ist das nicht mehr als ein informelles Gremium, um Meinungen auszutauschen und zu besprechen, wo man gerade steht?

Genau – rechtlich können die eigentlich auch gar keine Beschlüsse fassen.

Wie sind die Troika und ihre drei Institutionen (Europäische Zentralbank, EU-Kommission, Internationaler Währungsfonds) formell zu Stande gekommen? Gibt es dafür auch kein richtiges rechtliches Gefäß?

2010 ist man draufgekommen, dass man in der Europäischen Verfassung gar nicht darauf vorbereitet ist, Finanzkrisen dieses Ausmaßes zu bearbeiten. Man hat dann, statt die dafür vorgesehenen demokratischen Verfahren "anzuwerfen", sehr schnell eine Flucht aus dem Europarecht begangen und ist ins Völkerrecht gegangen. Die Troika ist ein Konstrukt, das über völkerrechtliche Regelungen vor allem in den Rettungsschirmen zu Stande gekommen ist.

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Neben diesen Institutionen gibt es Vereinbarungen und Werkzeuge, mit denen operiert wird – den Fiskalpakt ("Schuldenbremse"), EFSF und ESM ("Rettungsschirm") – sind die auch alle am Europarecht "vorbei" geschaffen worden?

Hier ist genau dasselbe passiert wie bei der Troika – man hat die Flucht aus dem Europarecht begangen, damit die (wenn auch durchaus zu wenig ausgebauten) demokratischen Sicherheitsmechanismen des Europarechts umgangen und das ganze über völkerrechtliche Verträge eingerichtet.

Was wären die eigentlich anzuwendenden Rechtsschablonen gewesen – auch wenn sie vielleicht in der Situation nicht entsprechend entwickelt gewesen sind – was wäre der korrekte Weg gewesen?

Eine Änderung der Europäischen Verträge, die vorsieht, dass das Europäische Parlament frühzeitig eingebunden wird. Über den Weg eines Konvents hätte das Europäische Parlament jedenfalls ein Veto-Recht gehabt und die nach ihrer Änderung "neuen" Verträge hätten auch noch von allen Parlamenten je nach den jeweiligen verfassungsrechtlichen Regelungen der einzelnen Länder ratifiziert werden müssen. Man hätte also viel höhere Konsenserfordernisse gehabt, wenn man die Europäischen Verträge abgeändert hätte, als wenn man völkerrechtlich vorgeht.

Wenn man so ein Vorgehen in allen betroffenen Staaten absegnen hätte müssen – hätte das umgekehrt auch geheißen, dass ein einzelnes Land ein Veto-Recht gehabt hätte und das ganze hätte verhindern können?

Genau. Ein einzelnes Land hätte ein Veto-Recht gehabt. Aufgrund dieses Veto-Rechts, aber auch aufgrund der Einbindung der Parlamente wäre die Debatte darüber, welche Rettungspolitik gefahren werden soll, jedenfalls breiter gewesen. Vielleicht auch darüber, wie die Programme auszusehen haben.

Was aber auch viel länger gedauert hätte...

Ja, natürlich.

Zur Umsetzung dieser Vereinbarungen: Wie operieren die Eurogruppe und die Troika in der Praxis? Wie werden die Vereinbarungen umgesetzt?

Es gibt hier eine ganz klare Aufgabenteilung: Die Eurogruppe ist wirklich nur zur Koordinierung da – auch wenn sie faktisch sehr viel Macht hat, entscheidet sie rechtlich nichts. In der Rettungspolitik selbst schließen die "Programmländer", z.B. Griechenland oder Portugal, mit der Troika Vereinbarungen ab, sogenannte "Programme" – in der Fachsprache auch "Memoranda of Understanding". Die Programme sehen Bedingungen vor. Wenn die Bedingungen erfüllt sind, dann wird Geld aus den Rettungsschirmen überwiesen. Damit ist die Sache aber noch nicht zu Ende – die Troika schließt nämlich nur die Programme mit den Ländern ab. Dann braucht es aber noch eine Ratifizierung in den jeweiligen Rettungsschirmen. Momentan ist das der Europäische Stabilitätsmechnismus ESM, der einen Gouverneursrat vorsieht, in dem es Einstimmigkeit für die jeweiligen Programme braucht.

Wer sitzt in diesem Gouverneursrat?

Die Finanzminister der Länder, die den Euro als Währung haben.

Das heißt, ein einzelnes Land hat dabei sehr wohl Mitspracherecht? In einem profil-Artikel vom 23. Februar sagt SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder in Bezug auf Griechenland nämlich, "die Details des Sparkurses verhandelt die EU-Kommission. Als dann die Liste bekannt wurde, welche Staatsgüter Griechenland privatisieren muss, haben sowohl Werner Faymann als auch ich gesagt, das ist falsch. Auch von der Streichung der Arbeitslosenversicherung erfuhren wir erst vor einem Dreivierteljahr".

Die Republik Österreich muss zustimmen. Es braucht Einstimmigkeit laut Artikel 13 Absatz 3 des ESM-Vertrages. Ohne Republik Österreich hätte es kein Programm gegeben. Nicht für Griechenland und nicht für die anderen Länder. Darüber hinaus darf der Finanzminister laut österreichischer Regelung im Gouverneursrat nicht einfach zustimmen, denn das ganze muss auch durch den Ministerrat. Jedes Programm und auch die darin vorgesehenen Details haben also jedenfalls den österreichischen Ministerrat passiert.

Auch das, was Klubobmann Andreas Schieder hier anspricht, die Rücknahme der Arbeitslosenversicherung, hat somit den österreichischen Ministerrat passieren müssen, sonst wäre es gar nicht dazu gekommen?

Genau.

Was haben die Troika-Programme der letzten Jahre für Griechenland vorgesehen und praktisch bewirkt?

Seit 2010 wurde eine neoliberale Politik vorgeschrieben, die im Wesentlichen aus zwei Säulen besteht: Auf der einen Seite radikales Sparen bei öffentlichen Leistungen, auf der anderen Seite Wettbewerbsfähigkeit durch Lohn- und Sozialdumping. Das waren jeweils die Bedingungen der Programme für die Ausschüttung von Geldern. Die Konsequenz war eine massive Verarmung. Ein Viertel der Wirtschaftsleistung in Griechenland ist weggebrochen, die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei 28 Prozent, unter den Jugendlichen sogar bei 60 Prozent. Fünfzig Prozent der GriechInnen sind nicht mehr krankenversichert, die Suizid- und Kindersterblichkeitsraten sind stark angestiegen. Auch das eigentliche Ziel, das immer so groß angekündigt worden ist – die Schuldenreduktion – ist nicht erreicht worden: 2010 lag der Schuldenstand bei ca. 120 Prozent des BIP, mittlerweile steht er bei 175 Prozent. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Griechenland jedenfalls nicht die Arbeitenden, die Armen und die Arbeitslosen gerettet worden sind.

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Wenn eine Troika-Maßnahme nicht mit den Gesetzen in dem jeweiligen Land konform geht – was dann? Es gibt ja zum Beispiel den Fall der Putzfrauen, die in griechischen Ministerien beschäftigt waren und während des Vollzugs der Sparprogramme gekündigt worden sind. Diese Kündigungen wurden in Griechenland höchstgerichtlich als widerrechtlich abgeurteilt.

Es gibt unterschiedliche Wege, die ich beschreiten kann, um mein Recht durchzusetzen. Erstens, wie angesprochen, zu problematisieren, dass das gegen das Verfasssungsrecht des jeweiligen Landes verstößt. Wenn das gelingt, kann es dazu führen, dass der Verfassungsgerichtshof eine entsprechende Maßnahme auch aufhebt. In Portugal konnte man das zweimal in Bezug auf Pensionsreformen, die von der Troika vorgeschrieben worden waren, erleben. Es gibt natürlich auch andere Wege, zum Beispiel den europarechtlichen. Hier besteht das Problem, dass, obwohl viele Maßnahmen der Troika europarechtlich äußerst bedenklich und ziemlich sicher europarechtswidrig sind, nur ein eingeschränkter Rechtsschutz besteht: Wenn ich eine Nichtigkeitsklage einbringen möchte, geht das ohne weitere Vorbedingungen nur, wenn ich ein Mitgliedsstaat bin oder ein Organ der Europäischen Union. Wenn ich eine der betroffenden Putzfrauen bin, muss ich einen sehr komplizierten Beweis erbringen, nämlich, dass ich "unmittelbar und direkt betroffen" bin. Das ist zumeist sehr schwierig. Hier haben wir ein Problem im Rechtsschutz auf europarechtlicher Ebene und wir sehen vor allem politisch, dass die Mitgliedsstaaten, aber auch die Organe der EU (z.B. das EU-Parlament) nicht bereit waren, die Politik der Troika zu problematisieren. Nebenbei gesagt hätte das EU-Parlament auch einige politische Werkzeuge dazu gehabt, sogar obwohl die Troika ja eigentlich außerhalb des Europarechts agiert.

Wer hätte also z.B. in Österreich so eine Nichtigkeitsklage auf europarechtlicher Ebene einbringen können?

Die Republik Österreich als solche hat die Möglichkeit, Handlungen von Unionsorganen wo die Vermutung besteht, dass die nichtig sind, mit dieser Nichtigkeitsklage zu bekämpfen.

Gibt es schon EuGH-Erkenntnisse in solchen Fällen?

Das interessante ist: Aufgrund dieser zurückhaltenden Rolle, die die Organe der Europäischen Union gespielt haben, aber auch die bisherigen Regierungen der Mitgliedsstaaten, gab es vor dem EuGH kaum noch Klagen, die die Politik der Troika problematisiert haben. Es gibt aber Erkenntnisse, in denen das "nebenbei" erfolgt ist: etwa die Rechtssache Pringle, aus der sich einiges ableiten lässt. Interessant sind auch die Schlussanträge, die zum berühmten Fall des OMT-Verfahrens (ob die EZB Staatsanleihen kaufen darf) vorliegen: hier sagt der Generalanwalt sehr eindeutig, dass die Rolle der EZB äußerst problematisch war, weil sie europarechtlich nicht gedeckt ist. Er traut sich nicht so weit zu gehen, wirklich auszusprechen, dass das eigentlich ein klarer Rechtsbruch war, macht aber zur Voraussetzung für zukünftige Programme, dass sich die EZB zurückzieht.

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Es gibt auch eine diesbezügliche Studie, die gemeinsam von Arbeiterkammer, ÖGB und anderen beauftragt wurde. "Austeritätspolitik und Menschenrechte" untersucht die Troika-Politik der letzten Jahre auf ihre Rechtsgültigkeit. Was sind die prägnantesten Erkenntnisse?

Die zentralen Ergebnisse sind: Bedingungen im Gegenzug zu Geld aus Rettungsschirmen sind als solche nicht grundsätzlich problematisch. Es geht um die Ausgestaltung der konkreten Bedingungen. Wenn man sich vor Augen führt, dass etwa das griechische Gesundheitssystem brutal gekürzt wurde (um ein Viertel, obwohl Griechenland auf diesem Sektor ohnehin sehr geringe Ausgaben hatte, um einiges geringer als Deutschland und Österreich), kann man sehen, dass solche Bedingungen gegen spezifische Grundrechte verstoßen, die in der EU-Grundrechte-Charta oder in der europäischen Menschenrechtskonvention abgesichert sind. Hier zum Beispiel das Menschenrecht auf Gesundheit. Die Studie prüft das anhand der verschiedenen Memoranda of Understanding und kommt zu dem Ergebnis, dass in mehrere Grundrechte massiv eingegriffen worden ist. Dazu muss man festhalten, dass Staaten natürlich in Grundrechte eingreifen können, sie müssen das aber verhältnismäßig tun: Sie müssen belegen, dass sie kein Mittel in der Hand hatten, das eingriffsärmer wäre, um ein gewisses Ziel zu erreichen. Das Ziel war die Sanierung der Haushalte. Hier ist klar, dass es wesentlich eingriffsärmere Möglichkeiten gegeben hätte, die Haushalte zu sanieren, als das Gesundheitssystem zusammenzusparen – etwa über Vermögensbesteuerung, wo Griechenland selbst unter dem Schnitt der Eurozone liegt. Oder über die Militärausgaben, die in Griechenland viel zu hoch sind, überproportional hoch im Vergleich zur Eurozone. Bedingungen in diesem Bereich hat es aber nicht gegeben.

Gibt es für die einzelnen Länder oder Menschen in diesen Ländern weitere Möglichkeiten, rechtlich vorzugehen?

Ja, einerseits die Möglichkeit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der sehr "europäisch" klingt, aber ein Gerichtshof in der Systematik des Europarates ist und deswegen aus dem Völkerrecht erwächst. Auch vor dem Internationalen Gerichtshof der UN könnte geklagt werden. Weitere Möglichkeiten gibt es im Bereich des "soft law" – hier kommt es nicht wirklich zu Judikaten, aber zumindest werden Expertenausschüsse angerufen, die zu Beurteilungen kommen – zum Beispiel der ILO-Expertenausschuss.

Ist so etwas schon erfolgt?

In Bezug auf die ILO: ja. Die Ergebnisse sind auch dahingehend eindeutig, dass es zu Grundrechtsverletzungen gekommen ist. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gab es auch schon mehrere Verfahren, die Ergebnisse sind durchwachsener. Teilweise sind konkrete Maßnahmen aufrechterhalten worden, andere als grundrechtswidrig beurteilt worden. Interessant ist: Der Kommissar für Menschenrechte des Europarates hat einen sehr kritischen Bericht zur Troika-Politik veröffentlicht, der zum Ergebnis kommt, dass die Troika-Politik grundrechtswidrig ist.

Haben solche Erkenntnisse, so ein Bericht Auswirkungen?

Ja, zumindest die Erkenntnisse vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind mit Strafzahlungen verbunden. Man kann schon darauf hoffen, dass zumindest die konkrete Maßnahme in Bezug auf die betroffene Person aufgehoben wird.

Heißt das, dass auch eine ähnlich gelagerte Maßnahme in der Zukunft nicht mehr zur Anwendung kommt – wie bei einer Art Präzedenzfall?

Es wäre zumindest ein Hinweis an die Politik, solche Programme nicht mehr zu machen. Es gibt aber natürlich kein konkretes Mittel, die Politik daran zu hindern, solche Programme erneut zu beschließen. Insgesamt ist Rechtsschutz immer etwas, das erst im Nachhinein greift, sehr voraussetzungsvoll ist (weil es sehr viel Wissen voraussetzt) und soziale Auseinandersetzungen immer auch sehr stark individualisiert. Man muss sehr vorsichtig sein – ob das der richtige Weg ist, eine falsche Politik zu problematisieren.

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In der medialen Verhandlung von all diesen Angelegenheiten wird vor allem von den "Geber-Ländern" sehr nachdrücklich und wiederholt darauf gepocht, dass Verträge "einzuhalten sind". Dementsprechend hat sich EU-Kommissionspräsident Juncker Ende Jänner kurz vor den griechischen Parlamentswahlen geäußert. Auch der deutsche Finanzminister Schäuble hat das im Rahmen der Unterredungen der Eurogruppe immer wieder bekräftigt. Es gibt aber seit Jahren auch Stimmen, die sagen, dass das eigentlich für beide Seiten gilt und dass im konkreten Fall sehr wohl auch Deutschland zu den wirtschaftlichen Ungleichgewichten beiträgt, die es Griechenland so schwer machen, aus der Krise zu kommen. Welche Regelwerke sind da angesprochen und wie schlagkräftig sind die juristisch?

Ich glaube, hier kann man eine ziemlich große Scheinheiligkeit feststellen. Weil die Forderung an Griechenland, Verträge einzuhalten, eben auch auf die eigenen Institutionen anzuwenden ist. Hier sieht man: Die Troika ist europarechtswidrig aufgrund des fehlenden Mandats der Europäischen Zentralbank. Die konkreten Troika-Programme sind grundrechtswidrig, sie verstoßen gegen die EU-Grundrechtscharta. Hier sind die Europäischen Verträge jeweils nicht eingehalten worden. Das gleiche ist bei jenen Programmen der Fall, die seit 2010 in Stellung gebracht worden sind und diese Troika-Politik "europäisiert" haben – nicht so stark wie in den Krisenländern, aber schon sehr weitgehend, auf alle Mitgliedsstaaten der Eurozone ausgeweitet. Das sind zum Beispiel der Fiskalpakt und die sogenannte "Economic Governance" – beide Instrumente setzen sich wie die Troika-Politik zusammen: Sie sehen einerseits radikales Sparen bei den öffentlichen Dienstleistungen vor, andererseits Wettbewerbsfähigkeit durch Lohn- und Sozialdumping. Wenn man wieder die Grundlagen dieser Instrumente untersucht – gibt es demokratiepolitisch entsprechende Grundlagen, ist das rechtlich sauber aufgesetzt – sieht man auch hier offensichtliche Rechtsmängel. Auch hier sind die eigentlich dafür vorgesehenen Verfahren umgangen worden, weil der Konsens brüchig geworden ist. Der Konsens, eine neoliberale Politik auf europäischer Politik fortzusetzen. Deshalb hat man versucht, die Konsenserfordernisse durch strategische Entscheidungen abzusenken, indem man zum Beispiel ins Völkerrecht geflüchtet ist (siehe "Fiskalpakt") oder indem man Rechtsgrundlagen gewählt hat, die eigentlich keine Kompetenz dafür vorsehen. Man hätte wiederum eigentlich die EU-Verträge ändern müssen, um diese Instrumente in Stellung bringen zu können (siehe "Economic Governance").

Welchen Regeln würde Deutschland eigentlich auch unterliegen, wenn es um außenwirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb des gemeinsamen Währungsraumes geht, die sich ja auf alle Euroländer auswirken?

Das ist sozusagen Teil zwei der Antwort: Der erste Teil hat sich darauf bezogen, was eigentlich nicht ordnungsgemäß beschlossen worden ist. Jetzt dazu, was beschlossen worden ist und ob diese Regeln eingehalten werden: Hier konnte leider gerade Deutschland in den Verhandlungen durchsetzen, dass interessanterweise Leistungsbilanzdefizite und Leistungsbilanzüberschüsse (wie sie Deutschland hat) nicht gleich bewertet werden. Obwohl sie zwei Seiten der selben Medaille sind, wie das ja auch Ökonomen wie Heiner Flassbeck bestätigen, konnte in den Verhandlungen aufgrund der faktischen Macht der deutschen Staatsapparate durchgesetzt werden, dass Leistungsbilanzüberschüsse weitaus höhere Margen haben als Leistungsbilanzdefizite. Deswegen hat von Seiten der EU-Kommission bisher auch noch kein entsprechendes Verfahren eingesetzt, das diese "Exportweltmeister"-Rolle Deutschlands problematisieren würde.

Ist hier das "Recht des Stärkeren" in Effekt – im Sinne von "rule by law"?

Ja, oder noch zugespitzter: dass Recht gebrochen wird und sich reine Macht durchsetzt. Wir können geschichtlich immer in großen Krisensituationen beobachten, dass Recht gebrochen wird, und sich die faktische Macht 1:1 unmittelbar durchsetzen kann. Zuletzt konnten wir vor allem in den 1930er Jahren beobachten, dass an bestehenden Verfassungen und Verträgen vorbei exekutiv Instrumente errichtet werden.

Zurück zum Alltag der Menschen, die betroffen sind: nicht nur in Griechenland, Portugal oder Spanien, sondern auch "bei uns" haben Menschen vielfach das Gefühl, dass es immer mehr Schulden gibt. Es gibt ja auch immer mehr öffentliche Verschuldung – besonders, seit viele Schulden auf den öffentlichen Sektor übertragen worden sind...

Was der kleine Mann oder die kleine Frau von der Straße am Anfang der Krise subjektiv wahrgenommen hat, "die Großen, die Banken und Vermögenden werden gerettet", ist mittlerweile klar bestätigt. Es gibt mehrere Studien, die sich angesehen haben, wo das Geld hingeflossen, wer gerettet worden ist. Sind das die Armen, Arbeitslosen in Griechenland gewesen, oder waren das Banken und Hedgefonds? Diese Studien kommen ziemlich eindeutig zum gleichen Ergebnis. Die eine sagt, 80 Prozent, die andere, 90 Prozent des Rettungsgeldes sind an griechische und europäische (vor allem deutsche und französische) Banken geflossen.

Das deckt sich auch mit der Einschätzung der amtierenden griechischen Regierung, dass fast kein Geld an die GriechInnen geflossen ist, die in ihrem Alltag unter den Kürzungsmaßnahmen leiden müssen.

Ja. Es ist glaube ich auch für jede/n wahrnehmbar, der/die Griechenland in den letzten Jahren besucht hat, dass durch die Wirtschaftskrise die breite Bevölkerung verarmt, und interessanterweise die Vermögenden und die Banken von der bisherigen Troika-Politik, aber auch von der Politik der bisherigen griechischen Regierung nicht haftbar gemacht worden sind. Das oberste Prozent der Vermögenden in Griechenland ist wie in ganz Europa und auch weltweit durch die Krise reicher geworden – weil die Troika-Programme keine Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen vorgesehen haben. Interessanterweise auch keine Programme zur Vermeidung von Steuerhinterziehung und zur Reduktion der überproportional hohen Militärausgaben.

Hat es faktisch also gleichzeitig mit der Übertragung der Schulden auf den öffentlichen Sektor im Euroraum gar keine Übereinkünfte darüber gegeben, wie man sich dieses Geld fiskalisch wieder zurückholt? Für den einfachen Europäer, die einfache Europäerin – egal ob in Deutschland, Spanien, Österreich – hat es keine Wiedergutmachung gegeben?

Nein, hat es nicht gegeben. Die einzige Maßnahme, die etwas in diese Richtung wirken könnte, wäre die Finanztransaktionssteuer. Hier wird vor allem von den starken Akteuren auf den Finanzmärkten hoher Druck ausgeübt, damit die politisch nicht beschlossen wird. Damit lässt sich auch erklären, wieso sie bisher nicht beschlossen wurde.

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Weil vorhin schon einmal zur Sprache gekommen: Welche Parallelen mit der politischen Krisenbearbeitung in den 1930er Jahren lassen sich konkret benennen?

Es ist erschreckend, wenn man sich ansieht, wie die Krise der 1930er Jahre "gelöst" worden ist und dann die Parallelen feststellt, die es zu jener Art und Weise gibt, wie mit der jetzigen Krise umgegangen wird. In den 1930er Jahren ist in Deutschland und auch in Österreich eigentlich dasselbe passiert wie jetzt: die eingebrochene Wirtschaft hat dazu geführt, dass die Einnahmen des Staates gesunken sind. Von konservativer und ordoliberaler Seite ist argumentiert worden, dass das nicht das Problem der Finanzmärkte und des deregulierten Kapitalismus ist...

... also kein "Fehler im System"...

Kein Fehler im System, sondern dass es die überbordenden Ansprüche der Bevölkerung, der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften sind. Die Idee, wie man das bearbeiten soll – es ist interessant, dass hier wirklich auch die selben Begriffe verwendet worden sind – war zum Beispiel die Einführung einer "Schuldenbremse" in Deutschland, die Einführung von Spar-Kommissaren für gewisse Länder und Städte. Starke Parallelen also dazu, wie die EU-Krise derzeit bearbeitet wird. Interessant ist, dass wir auch den selben Rechtsbruch erleben können, den wir heute teilweise auch auf europäischer Ebene beobachten können. Nämlich, dass an der damals geltenden Weimarer Verfassung vorbei per Notstandsverordnungen exekutiv Recht gesetzt worden ist. Deswegen sagen auch sehr bekannte Europarechtswissenschafter wie Christian Joerges, dass die jetzige Krise sehr stark an die Weimarer Republik und auch an Carl Schmitt, den rechtskonservativen und später nationalsozialistischen Vordenker, erinnert, der zu Zeiten der Weimarer Republik ein zentraler Berater der Sparregierung unter Heinrich Brüning war.

Ist das auch der Grund, wieso die griechische Regierung immer wieder ins Treffen führt, dass die einzige Lösung ihrer Ansicht nach eine Euro-weite Schuldenkonferenz wäre – sozusagen ein Rückgriff in die Geschichte?

Ich glaube, dass sich Geschichte nicht einfach wiederholt. Es ist aber klar, dass die heutige Krisen-Politik, die der in den 1930er Jahren doch sehr gleicht, es wahrscheinlicher macht, dass es zu autoritären Lösungen kommt. Es wäre sehr wichtig, früh gegenzusteuern, und ich denke, der Vorschlag der griechischen Regierung ähnlich wie damals zumindest Lehren zu ziehen, und eine Schuldenkonferenz einzuberufen, wäre sinnvoll. Es ist sehr interessant, dass die Schuldenkonferenz, die nach dem zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, von den Ausgangsbedingungen her eigentlich eine ähnliche Situation vorgefunden hat, wie wir sie heute sehen: Deutschland war damals sogar höher verschuldet, als es Griechenland heute ist (siehe hier und hier, Anm.). Nach dem von Deutschland und Österreich verschuldeten Krieg lag der deutsche Schuldenstand bei 200 Prozent des BIP. Damals hat man gesagt, dass diese Schulden nicht tragfähig sind, und wenn man für keine Erleichterung sorgen würde, bestünde große Gefahr, dass sich rechte autoritäre Kräfte erneut durchsetzen. Deswegen hat man damals einen Schuldenschnitt vorgenommen, Deutschland die Hälfte der Schulden erlassen und die Rückzahlung der verbleibenden Schulden daran gebunden, dass in Deutschland wieder Wirtschaftswachstum einsetzt. Das hat letztlich dazu geführt, dass Deutschlands Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg diese wirtschaftlich sehr erfolgreiche Entwicklung nehmen konnte.

Wobei ja insgesamt sehr umstritten ist, wie viele von den deutschen Schulden überhaupt getilgt sind.

Das betrifft eine noch frühere Zeit: die Reparationszahlungen aufgrund der Verbrechen, die die Wehrmacht und die SS in Griechenland begangen haben. Hier ist aus völkerrechtlicher Perspektive vollkommen klar, dass diese Schulden noch aufrecht sind. Es ist überraschend und zeigt klar, wie die derzeitigen Kräfteverhältnisse auch in der medialen Berichterstattung gelagert sind, dass dieses Thema so wenig berücksichtigt wird. Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, der Studienautor von "Austeritätspolitik und Menschenrechte", hat auch dazu zuletzt sehr viel publiziert.

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