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8. 3. 2015 - 11:10

"Zum ersten Mal Frauen an vorderster Front"

Bügermeisterinnen aus den türkischen Kurdengebieten über kurdische Kämpferinnen gegen den IS und ihr eigenes Modell der Doppelführung.

Ein Frauenbild, das im letzten Jahr vielfach um die Welt gegangen ist, ist das von den kurdischen Kämpferinnen, die bei der Befreiung der Stadt Kobani gegen den IS mitgekämpft haben. Auf Einladung der Grünen waren vier kurdische (Co-)Bürgermeisterinnen in Wien - einige von ihnen stehen Städten vor, die nahe an der Grenze der Türkei mit Syrien und dem Irak liegen: Hatice Çoban ist Co-Bürgermeisterin der Stadt Van., Yüksel Mutlu der Stadt Mersin. Emine Esmer steht der Stadt Silopi vor und Leyla Imret Cizre. Sie bekommen den Kampf gegen den islamischen Staat und die Flüchtlinge aus den umkäpften Gebieten hautnah mit.

Vier kurdische Bürgermeisterinnen: Leyla Imret, Hatice Çoban, Emine Esmer und Yüksel Mutlu

FM4/Irmi Wutscher

Vier kurdische Bürgermeisterinnen: Leyla Imret, Hatice Çoban, Emine Esmer und Yüksel Mutlu

Die eingeladenen Bürgermeisterinnen sind alle von der Partei HDP, auf Deutsch die „Demokratische Partei der Völker“. Sie wird dem linken kurdischen Spektrum zugeordnet, vereint aber als Dachpartei verschiedene linke Gruppierungen unter sich. Frauenpolitik ist in der HDP wichtig. Um Frauen auf allen politischen Ebenen zu repräsentieren, hat sich die HDP ein Alternativmodell zur Quote ausgedacht: Spitzenpositionen, wie zum Beispiel den Bürgermeister, bekleiden immer eine Frau und ein Mann. Jede Entscheidung muss gemeinsam getroffen werden. Offiziell anerkannt ist diese Doppelführung vom türkischen Staat nicht - die beiden Bürgermeisterinnen müssen sich das Gehalt teilen.

Das sagen sie über die aktuelle Flüchtlingslage in den türkischen Kurdengebieten, über kurdische Kämpferinnen und ihr Modell der Doppelführung:

Übersetzung während des Interviews: Silan Kayan/FEYKOM

Zwei von Ihnen kommen aus dem direkten Grenzgebiet zu Syrien - wie sieht es dort derzeit aus? Gibt es viele Flüchtlinge? Haben Sie Angst dass der IS wiederkommt?

Emine Esmer: Aufgrund des IS-Terrors kommen viele Flüchtlinge. Wir bringen sie zum Teil in einem Flüchtlingslager unter, zum Teil in Wohnungen.
Leyla Imret: Viele Flüchtlinge sind in den Sengal-Bergen geblieben und verhungert, andere dem IS in die Hände gefallen. Die, die über die Grenze gekommen sind, haben Traumata und Schmerzen mitgenommen. Die brauchen eigentlich eine besondere Versorgung.
Hatice Çoban: Wir unterscheiden zwei Gruppen von Frauen: Das eine sind die Frauen in den Lagern, das Leben dort ist nicht einfach, die hygienischen Bedingungen nicht gut. Viele Frauen müssen Kinder versorgen, nicht nur die eigenen sondern auch Kinder, deren Eltern im Krieg gestorben sind. Andererseits gibt es die Frauen, deren Männer oder Verwandte in den Krieg gezogen sind und die alleine zurückgeblieben sind. Wir haben mittlerweile Unterorganisationen gebildet, um alle diese Leute versorgen zu können. Dabei legen wir vor allem auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln und auf die Versorgung der Kleinkinder wert. Ansonsten arbeiten wir auch am Wiederaufbau von Kobani und Sengal - dort muss aber als erstes Sicherheit gewährleistet werden.

Man hat im letzten Jahr viele Bilder von kurdischen Frauen gesehen, die bei den kurdischen Selbstverteidigungstruppen mitgekämpft haben, auch aus den Gebieten wo manche von Ihnen Bürgermeisterin sind. Aus welcher Situation heraus geht man als Frau in den Kampf gegen den IS, wie alt sind die Frauen?

Hatice Çoban: In der ganzen Region, in Kobani und Sengal sind Frauen vom IS-Terror massivst betroffen, von Vergewaltigungen bis hin zu Versklavung und Mord. Die IS Terroristen wollen jede_n, aber vor allem die Frauen, die nicht in ihr Weltbild passen, vernichten. Die Frauen, die sich dem Kampf anschließen, sehen diese Gefahr des IS-Terrorismus, der im Besonderen ihre Freiheit angreift. Es schließen sich diesem Kampf vor allem Frauen zwischen 18 und 40 Jahren an, sie kommen aus allen Schichten. Es sind Schülerinnen und Studentinnen, aber auch Hausfrauen. Natürlich kämpfen die vor allem für sich und für ihre Heimat. Sie kämpfen aber auch für eine offene Weltanschauung und im Allgemeinen für die ganze Welt, denn der IS-Terror stellt ohne Frage eine internationale Bedrohung dar.

Die Bilder waren ja recht stark – die kämpferischen Frauen mit den Gewehren in der Hand. Das Darstellen der Frauen als Kämpferinnen – ist das auch eine gezielte Taktik, um den IS einzuschüchtern?

Hatice Çoban: Es sind nicht bewusst gewählte Fotos, die da geschossen werden, und dann der internationalen Öffentlichkeit serviert werden. Ein Aspekt ist aber sicher auch: überall auf der Welt kämpfen sonst immer die Männer an vorderster Front. Und vielleicht zum ersten Mal kämpfen hier Frauen gegen eine so große Bedrohung. Das ist sicher auch ein Grund, warum sie in den Vordergrund rücken.
Emine Esmer: Mein Kollege und ich waren als BügermeisterInnen von Silopi vor 15 Tagen in Kobani. Wir haben uns selber ein Bild vom Willen und von der Entschlossenheit der Frauen gemacht – zu Zeiten des Krieges genauso wie jetzt, wo es um den Wiederaufbau geht.

Gerade haben wir über kurdische Frauen als Kämpferinnen gegen den IS gesprochen. Was sind sonst frauenpolitische Themen in der Region?

Yüksel Mutlu: Als erstes möchte ich allen Frauen zum heutigen 8. März, dem Internationalen Frauentag gratulieren. Gerade haben wir über die Kämpferinnen gesprochen: die kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern sie kämpfen auch für eine Welt in der Männer und Frauen gleiche Rechte haben. Die kurdische Frauenbewegung führt seit 40 Jahren diesen Kampf. Sie versucht im öffentlichen Leben, in der Politik den Schulen, aber auch zu Hause dafür zu kämpfen dass die Frau auf eigenen Beinen stehen kann und gleichgestellt ist.

Was sind die größten Hindernisse in Sachen Frauenrechte vor Ort, wo die Bürgermeisterinnen den jeweiligen Gemeinden vorstehen?

Yüksel Mutlu: Übergriffe von Männern sind noch immer ein Thema, seien das sexuelle Übergriffe oder physische oder psychische Gewalt. Die derzeitige (türkische) AKP-Regierung ermöglicht auch einen Spielraum für Männer, diese Übergriffe zu tätigen. Die AKP beansprucht das Recht, über den Körper einer Frau zu entscheiden. Sie möchten darüber bestimmen, ob eine Frau eine Abtreibung bekommen kann, wie lang oder kurz ihr Rock sein darf, wie laut eine Frau lachen darf. Wir kämpfen in den Städten, denen wir vorstehen, gegen diese Politik an, zum Beispiel mit der Einrichtung von Frauenhäusern oder Beratungsstellen.

Hatice Çoban: Es geht uns auch nicht nur um Rechte von Frauen, wir (die HDP) vertreten auch die Rechte von Homosexuelle oder Transpersonen.

Es gibt bei ihnen das Modell der gemeinsamen Führung: es sind immer ein Mann und eine Frau gleichzeitig Bürgermeister. Ist das eine Art Frauenquote? Wie funktioniert das?

Hatice Çoban: Wenn man Gleichberechtigung vertritt, muss man das auch in der Politik widerspiegeln. Die Frauen müssen auch vertreten sein. Deswegen sind bei uns immer ein Mann und eine Frau zusammen BürgermeisterIn. Wir haben eine gemeinsame Unterschrift mit unseren Co-Bürgermeistern. Alle unsere Entscheidungen müssen in Übereinstimmung getroffen werden. Mit nur einer Unterschrift kann nichts entschieden werden.

Was, wenn Sie sich nicht einig sind?

Hatice Çoban: Dann gibt es noch andere Gremien in den Gemeinden, die mitreden können, um eine Einigung zu erwirken.

Offiziell anerkannt ist diese Doppelführung nicht – das Gehalt müssen sich Bürgermeister und Bürgermeisterin teilen. Warum ziehen Sie das trotzdem durch?

Hatice Çoban: In der Bevölkerung der Türkei stellen die Frauen 52 Prozent. Wir bestehen auf einer politischen Vertretung, die diese 52 Prozent repräsentiert. Dazu kommt, dass wir ein Land im Nahen Osten sind und die Frauen auch unter Druck stehen und wir mit dieser Politik dagegen ankämpfen wollen.