Erstellt am: 7. 3. 2015 - 15:48 Uhr
Öffentliches Urinieren und Kanye West
Ich mag Trotzgesten, ihren Zorn und ihre Hilflosigkeit. Kanye West ist ein Meister im Anrühren dieser Melange. Diese Woche verkündete er in einem Interview mit der BBC seine Erkenntnis der Stunde: Classism is the new racism.
Der Neo-Marxist West meinte weiters, dass Exklusivität das neue N*-Wort sei, und sprach sich im Zuge seiner Überlegungen entschieden dagegen aus, dass ein Sweatshirt jemals mehr als 5.000 US-Dollar kostet und schloss das in einer Geste der Klassensolidarität für von ihm designte Kollektionen aus.
Das ist übrigens BBC-Radiomoderator Zane Lowe, der jetzt zu Apple wechselte...
Auf Verständnis könnten Kanye Wests Überlegungen in China treffen. Momentan gibt es unter reichen Chinesen einen Run auf Institute, die für Unsummen Small Talk-Kurse anbieten, um im westlichen Ausland nicht unangenehm aufzufallen. Gutes Benehmen als Statussymbol.
China hat 190 Millionen MilliardärInnen und über 2 Millionen MillionärInnen. 100 Millionen chinesische Touristinnen sind 2014 gereist und haben damit die USA und Deutschland als reisefreudigste Gruppe überholt. In den Medien rügen Politiker das Verhalten von Reisenden, das dem Ansehen der Nation schadet.
Zu den Schandtagen, sie in der China Post aufgeführt werden, gehören das zum Weinen bringen einer Stewardess, der Versuch, einen Flugzeugnotausgang zu öffnen, um während des Flugs frische Luft zu schnappen, das Sprayen von Graffiti und die von einer aufmerksamen Reiseleiterin kolportierte Weigerung, 70 Cent für eine Autobahntoilette zu bezahlen und auf den Parkplatz zu pinkeln, obwohl man auf der gleichen Reise sich eine Armbanduhr für mehrere tausend Euro zugelegt hat. ReiseleiterInnen entgeht nichts.
Bis auf das Öffnen der Flugzeugtür sind das alles Dinge, derer ich und sicher auch Kanye West schuldig sind. Schuldig und stolz drauf. Die Weigerung, sich der Verweigerung von Grundbedürfnissen zu beugen, ist kein schlechtes Benehmen.
Ich fliege sehr viel, eigentlich ständig durch die Gegend, meistens grundlos, falls Neugier als Legitimation nicht gelten sollte. Kollege Heinz Reich muss immer schmunzeln, dass ich mich weigere, tierische Produkte zu konsumieren, aber wegen meiner CO2-Produktion wahrscheinlich schon mehr als einen ertrinkenden Babyeisbären auf dem Gewissen habe.
Wie jede gute Touristin hasse ich andere Touristen und will nichts mit ihnen zu tun haben. Ein weitverbreitetes Phänomen, man will an einen anderen, fremden Ort, der aber sehr wohl eine Infrastruktur hat, die den eigenen Bedürfnissen entspricht, und ärgert sich dann, dass noch andere diese Infrastruktur benützen. Die "noblen Wilden", die die touristische Infrastruktur in ihrer Heimat tragen (weil wenn es internationale Ketten sind, finden wir das ja auch nicht gut) werden dadurch zu miesen Halsabschneidern, die es wagen, Preise zu verlangen, die ihnen bei durch den Tourismus entstandenen höheren Preisniveau ein Überleben ermöglichen.
APA/HERBERT NEUBAUER
Ich stand vor ein paar Wochen in Ho Chi Minh City in einer Schlange vor einem Restaurant, wenig chinesische Touristen und auch von Kanye West keine Spur, als ein mittelaltes "Jabba the Hutt"-förmiges Wesen mit verbrannter Haut mich ansprach. Offensichtlich war das Wesen auch fehlsichtig, weil niemand, der bei Trost ist, spricht eine Kreatur mit einem Gesichtsausdruck an, wie ich ihn vor mir hertrage. Das Wesen beschwerte sich, dass in dem der Kategorie Luxus zuzuordnenden Lokal das Essen um 70 Prozent teurer sei als auf dem Land und man mit einem Menüpreis von umgerechnet 3 Euro 50 rechnen müsste. Obwohl ich keinen Metall-Bikini trug, hätte ich Jabba gerne mit einer der überall herumhängenden Vietkong-Fahnen erdrosselt, aber dann hätte ich mich konsequenterweise gleich daneben aufhängen müssen. Kanye West kennt den Selbsthass, den ich meine. Tourismus, die geliftete aber immer noch hässliche Fratze des Kolonialismus.
Mein "Kanye West"-hassender und gegen ihn eine virale Schmutzkampagne auf Facbook führender Freund M. hat diese Woche ein Grafik gepostet, dass es weltweit nur vier Länder gab, die vom europäischen Kolonialismus verschont blieben: Japan, Korea, Thailand und Liberia. Andere Quellen sprechen von zehn bis zwölf Ländern. Das CIA World Fact Book gibt an, dass Ethiopien, Afghanistan, China, Japan und Thailand nie kolonisiert wurden.
Das sind Probleme und nicht Parkplatzpisser mit teuren Uhren und Sweatshirts, die mehr als 5.000 Dollar kosten.